Samstag, 27. Juni 2009

Überlegungen zur Evolution des Verstandes und zur Entstehung der inneren ideellen Welt

Ich hatte bei der Formulierung der Axiome, deren Gültigkeit ich an den Anfang aller meiner Überlegungen gesetzt habe, schon einmal die Instrumente des Verstandes, die eine Auswertung der Sinneseindrücke ermöglichen, angesprochen: unsere Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern, sie zu vergleichen und schließlich Abstraktionen vorzunehmen.

Ich will nun noch einmal auf diese Instrumente des Verstandes zurückkommen und kurz auf deren Entstehung eingehen, wobei ich aber nicht zu sehr ins Detail gehen möchte, weil ich in dieser Hinsicht mit dem Stand der Forschung nicht gut genug vertraut bin, insofern ist dieser Abschnitt auch mit noch etwas mehr Vorsicht zu genießen als das, was ich ansonsten von mir gebe.

Dabei nehme ich einen konsequent evolutionären Standpunkt ein, ich gehe also von der allmählichen Entstehung der geistigen Fähigkeiten, die den heutigen Menschen auszeichnen, aus. Das führt zu der interessanten Frage, wie Geist und Bewußtsein überhaupt entstanden sind. Ein Evolutionsbiologe könnte diese Frage sicherlich fundierter beantworten. Ich vermute jedoch, daß dies nicht in Form eines plötzlichen Evolutionssprungs geschehen ist (so dürfte wohl keiner unserer Vorfahren einen schwarzen Monolithen berührt und danach neue geistige Fähigkeiten entwickelt haben), sondern ein schleichender Prozeß war. Ich hatte ja schon die Instinkte angesprochen, die man als angeborene Verhaltensprogramme bezeichnen könnte, wobei diese Programme sicher auch das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses sind.

Wie könnte nun das Bewußtsein entstanden sein? Ich hatte ja bereits vermutet, daß die Entwicklung des Gedächtnisses als Grundlage aller Erfahrungsauswertung am Anfang gestanden haben könnte. Bekanntlich setzen sich im Rahmen der natürlichen Selektion - zumindest in der Masse - die am besten an ihre Umwelt angepaßten Lebewesen durch; das bedeutet, daß das einzelne Individuum durch seine gute Anpassung natürlich erst einmal nur eine verbesserte Überlebenschance hat. Doch wenn man eine Vielzahl von Lebewesen, insbesondere eine ganze Spezies betrachtet, dann kann man durchaus konkrete Aussagen über die Gesamtheit machen, und von den besser angepaßten Individuen einer Spezies werden sich eben deutlich mehr behaupten und damit auch fortpflanzen können als von den schlechter angepaßten.

Offenbar wurden bei unseren Vorfahren schon vor sehr langer Zeit Potentiale des Gehirns zur intellektuellen Verarbeitung erfahrener Sinneseindrücke immer weiter entwickelt, während die Instinkte an Bedeutung verloren. Vorteilhaft sind solche Fähigkeiten wohl vor allem bei sich schnell verändernden Lebensbedingungen: ein angeborenes Programm bringt dann nicht viel, während die Möglichkeit, Erfahrungen ganz individuell zu verarbeiten, die Orientierung auch in einer sich verändernden oder gar ganz fremden Umwelt ermöglichen kann. Hat dieser Aspekt dabei tatsächlich eine entscheidende Rolle gespielt? Ich weiß es nicht, halte es aber für möglich.

Ich vermute nun, daß sich die geistigen Fähigkeiten in ungefähr dieser Reihenfolge entwickelt haben dürften:


1. Gedächtnis

2. Vergleichsmöglichkeit

3. Induktive Schlüsse

4. Abstraktionsfähigkeit

Die ersten drei Fähigkeiten sind fraglos auch bei gar nicht mal so wenigen Tierarten schon anzutreffen, bei höher entwickelten Tieren wohl auch - zumindest in Ansätzen - schon die vierte Fähigkeit. So kann ich mich an ein (in einer Fernsehsendung gesehenes) Experiment (das ich jetzt hoffentlich korrekt beschreibe!) von Verhaltensforschern erinnern, das mit einem Menschenaffen durchgeführt wurde: dieser sollte einen bestimmten Gegenstand in einer Wohnung (oder zumindest eingerichteten Räumlichkeiten) finden. Dabei wurde dem Affen zunächst ein maßstabsgerechtes Modell der Wohnung gezeigt, inklusive eines Modells des Gegenstands. Die Affendame wußte das Modell in der Tat richtig zu lesen und steuerte den eigentlichen Gegenstand zielstrebig an, ohne erst lange zu suchen. Die dafür erforderliche Übertragung vom verkleinerten Modell auf die eigentliche Wohnung ist sicher eine Abstraktionsleistung.

Soviel zur Evolution des Verstandes - wie gesagt, hier fühle ich mich nicht wirklich kompetent, Evolutionsbiologen, Verhaltensforscher und noch andere Wissenschaftler, die in benachbarten Gebieten tätig sind, könnten sicher weitaus fundierter darüber schreiben. Ich wollte nur deshalb noch einmal auf die Vorgeschichte des menschlichen Verstandes eingehen, weil sie (meiner Meinung) dessen Struktur verständlicher macht.

Das gilt etwa für unsere Vorstellung von Zeit und Raum. Ich neige stark zu der Vermutung, daß tatsächlich eine Vorstellung von beidem schon in unserem Verstand angelegt ist, also noch vor der Erfahrung steht - und dies dürfte in der Tat eine euklidische Raumvorstellung sein und eine solche einer absoluten Zeit. Gegen die zweite Behauptung ließe sich nun einwenden, daß gerade das Zeitgefühl stark situationsabhängig und relativ sei. Dieser Einwand ist zunächst einmal richtig; Thomas Manns Meisterwerk "Der Zauberberg" (aus dem übrigens auch mein Name Settembrini stammt) ist voller tiefsinniger Reflexionen zum Zeitempfinden, um nur ein Beispiel zu nennen. Trotzdem gibt es aber auch so etwas wie ein absolutes Zeitgefühl, denn wenn man einen Menschen auffordert, nur mit seinem subjektiven Gefühl eine kurze Zeit zu messen, werden die Ergebnisse gar nicht so schlecht sein. Auch das Zusammenspiel der Musiker eines Orchesters zeugt von einem solchen absoluten Zeitgefühl, ohne daß ein koordiniertes Spielen gar nicht möglich wäre. Offenbar gibt es also eine Art von "innerer Uhr". Warum aber verschätzt man sich mitunter so gründlich, wenn es darum geht, wie viel Zeit seit einem bestimmten Moment schon vergangen ist? Nun, dies geschieht wohl vor allem dann, wenn man sich eine Weile nicht mit der inneren Uhr beschäftigt, sondern liest, Musik hört, versucht, der unverständlichen Vorlesung eines schlechten Professors zu folgen und dergleichen mehr. In solchen Fällen vernachlässigt man eine Weile die "innere Uhr" und wird von jeweiligem Interesse oder eben der entsprechenden Langweile getäuscht.

Nun wissen wir allerdings seit Einstein, daß Zeit und Raum eben nicht absolut sind, und der Raum muß obendrein auch nicht ohne weiteres euklidisch sein. Doch auf einen gekrümmten Raum oder Zeitdilatation ist unser Verstand nicht vorbereitet, man kann diese Dinge wissen und im physikalischen Sinne auch verstehen, man kann sie sich aber nicht vorstellen. Hier ist der im Verlauf der Evolution entstandene menschliche Verstand erst einmal überfordert. Wie dies passieren konnte, ist aber nicht schwer zu verstehen: relativistische Effekte spielen im alltäglichen Leben und damit in einer Umwelt wie jener, in der praktisch die gesamte Evolution stattgefunden hat, überhaupt keine erwähnenswerte Rolle. Es bestand daher auch keinerlei Selektionsdruck, ein entsprechendes Raum- oder Zeitempfinden zu entwickeln. (Die Frage, ob das überhaupt möglich ist, da man die Zeitdilatation ja gar nicht feststellen kann, wenn man sich nur in einem Inertialsystem aufhält ohne die Möglichkeit, den Vergleich mit einem anderen System anzustellen, will ich dabei einfach mal außen vor lassen.)


Entscheidend ist an dieser Evolution des Verstandes bis hin zur fortgeschrittenen Abstraktionsfähigkeit vor allem, daß sie die Grundlage für die Entstehung dessen ist, was ich als innere ideelle Welt bezeichnet habe. Dabei lohnt es sich vielleicht zu erwähnen, daß diese Gedankenkonstrukte der inneren ideellen Welt aber nicht einfach im luftleeren Raum schweben, sondern doch in direktem Bezug zur Außenwelt stehen. Vorstellungen wie die Platonischen Ideen sind zunächst einmal aus der Anschauung heraus entwickelt. Auch weitergehende Ideen, die nicht auf ein konkretes Vorbild aus der Außenwelt zurückzuführen sind, stehen doch immer in einem Bezug der Außenwelt, und sei es nur als Projektion.

Aus dem idealen Charakter der ideellen Welt einerseits, ihrem Verweisen auf die reale Außenwelt andererseits entsteht nun ein Spannungsverhältnis. Die ideele Welt mit ihren idealisierten Vorstellungen, ihren Ideen, ihrer den Beschränkungen des Konkreten enthobenen Geistigkeit übt auf ein Mängelwesen wie den Menschen, der zudem in einer alles andere als idealen Welt zurechtkommen muß, eine hohe Anziehungskraft aus, die oft mit dem Bedürfnis einhergeht, etwas von der Idealität dieser ideellen Welt in die konkrete Realität der Außenwelt hineinzutragen. Das kann unter Umständen sehr fruchtbar sein, unter Umständen aber auch verheerend. Andererseits können die Idealisierungen der ideellen Welt aber auch nützlich sein, um zu Erkenntnissen über die Außenwelt zu gelangen (unter der Voraussetzung, daß eine solche Erkenntnis wirklich möglich ist).

Das klingt nun alles etwas schwammig, soll nun aber konkretisiert werden. Ich möchte vor allem vier Felder ein wenig unter die Lupe nehmen, die von dem Spannungsverhältnis zwischen Außenwelt und (innerer) ideeller Welt geprägt sind:

1. Die Wissenschaft: Hierzu habe ich schon einiges gesagt, daher wird die Betrachtung kurz bleiben können. Zur Methode der Naturwissenschaft (die zum Teil von den Sozialwissenschaften übernommen worden ist), Beobachtungen der realen Welt in idealisierten (das heißt in aller Regel vereinfachten) Modellen abzubilden, deren immanente Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und so aus dem Modell Vorhersagen herauszuziehen, die dann durch neuerliche Beobachtungen der Außenwelt überprüft werden können, hatte ich ja schon ein wenig darzustellen versucht. Wichtig ist dabei: die (Natur)wissenschaft geht erst einmal vom konkreten, von der Außenwelt mit ihrer Komplexität und ihrer Unvollkommenheit, auch ihrer Materialität aus und bedient sich der Idealität der ideellen Welt, um auf diesem Umweg das Wesen der konkreten Außenwelt zu ergründen.

2. Ganz anders liegt der Fall in der Religion: diese geht vom Geistigen aus, und sieht die ideelle Welt letztlich als die höhere, die vorrangige an. Während die Naturwissenschaft von der Materie ausgeht und auf diesem Weg auch den Geist zu ergründen ersucht, geht die Religion vom Geist aus und tendiert dazu, die Materie nur als Manifestation des (göttlichen) Geistes zu betrachten. Das soll als Vorrede erst einmal genügen.

Natürlich wird einem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß ich hier ein wenig gemogelt habe, denn auch die Philosophie stellt ja ihrem Wesen nach eine Wissenschaft dar. Trotzdem trifft im Fall der Philosophie meine auf die Naturwissenschaft gemünzte Beschreibung der Wissenschaft durchaus nicht immer zu, die Philosophie vieler Denker steht der Religion deutlich näher. Wenn man daher Naturwissenschaft und Religion als die Enden eines weiten Spektrums verstehen will, dann deckt die Philosophie praktisch dieses gesamte Spektrum ab.

3. Freilich kann auch die Wissenschaft, wobei hier Philosophie und Sozialwissenschaften erfahrungsgemäß sehr viel anfälliger sind als Naturwissenschaften, selbst einen religionsartigen Charakter annehmen, sie wird dann zur Ideologie. Auch dies wird mir noch eine Betrachtung wert sein.

4. Völlig anders als die zuvor genannten Disziplinen geht dagegen die Kunst vor. Auch der Künstler geht letztlich von einer Idee (die ihm vermutlich als ideal oder vollkommen erscheinen wird) ausgehen und versucht diese umzusetzen, sie zu konkretisieren. Anders jedoch als der Ideologe etwa geht er aber in einem viel bescheideneren Rahmen vor: er versucht nicht die ganze Wirklichkeit seiner Idee anzupassen, sondern lediglich sein persönliches Werk, daher kann er auch niemals so viel Schaden anrichten. Zudem wird der Künstler in aller Regel danach streben, die Realität der Außenwelt in seinem Werk widerzuspiegeln, er strebt also einerseits die Vollkommenheit einer Ideenwelt an, versucht andererseits aber auf die Außenwelt in ihrer unvollkommenen Konkretität zu verweisen; mehr noch, auch seine Idee wird in aller Regel in der Außenwelt wurzeln. Damit schlägt er, wenn auch mit völlig anderen Methoden, einen ähnlichen Weg wie der Wissenschaftler ein, der ebenfalls auf dem Umweg über die idealisierte ideelle Welt die Außenwelt zu verstehen versucht.

Auf diese vier Bereiche werde ich als nächstes etwas genauer eingehen, wobei ich zur Wissenschaft schon einiges gesagt habe und daher versuchen werde, mich kurz zu fassen.

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