Sonntag, 21. Juni 2009

Ideelle Welten

Ich will noch einmal zusammenfassen: die einzige Welt, deren Existenz uns als wirklich sicher gelten kann, ist die ganz persönliche Innenwelt, die jeder in seinem Kopf mit sich herumträgt; um aber darüber hinauszukommen, hatte ich (wie es zweifellos schon viele vor mir getan haben) die Existenz der Außenwelt axiomatisch vorausgesetzt, und sogar weitere Annahmen getroffen: so die Existenz von Naturgesetzen, die das Geschehen in der Außenwelt prägen. Ich hatte darüber hinaus vorausgesetzt, daß unsere Sinneseindrücke von dem Geschehen in der Außenwelt beeinflußt werden, daß so eine zumindest indirekte Erkenntnis möglich ist, die sich durch naturwissenschaftliche Methodik sogar beträchtlich verbessern läßt. Dabei entwirft man letztlich Weltmodelle (die teilweise vereinfacht sind, wobei man natürlich anstrebt, die Modelle so weit zu entwickeln, daß man zuletzt alle vereinfachenden Einschränkungen hinter sich läßt), die sich mathematisch beschreiben lassen, so daß man zumindest die Gesetze kennt, denen das entsprechende Modell unterliegt. Wenn es gelänge, ein Weltmodell zu entwerfen, daß die Vorgänge der Außenwelt originalgetreu widerspiegeln würde und zugleich die Gesetzmäßigkeiten dieses Modells vollständig verstünde, dann hätte man die eigentlichen Gesetze der Außenwelt erkannt. (Die Physiker des späten 19. Jahrhundert waren der Ansicht, diesem Ziel bereits so nahe gekommen zu sein, daß es für junge Leute eigentlich nicht mehr lohnend wäre, Physik zu studieren, da es dort kaum noch etwas zu entdecken gäbe. Sie sind gründlich eines besseren belehrt worden.)

Die Frage ist nun, ob es sinnvoll ist, die Existenz weiterer Welten anzunehmen? Gehören etwa die eben angesprochenen Weltmodelle zur Innen- oder zur Außenwelt? Beide Zuordnungen erscheinen als unbefriedigend. Natürlich ist ein Weltmodell, daß ein Physiker entwirft, ein Bestandteil seiner Innenwelt, oder zumindest entspringt es aus dieser. Doch wenn er sein Modell in einem Buch festhält, das ein anderer liest, ist es plötzlich auch in der Innenwelt des Lesers vorhanden (möglicherweise verzerrt, wenn der Leser das Buch nicht begriffen hat, oder ganz im Sinne des Physikers, wenn der Leser kompetent genug ist, das Buch wirklich zu verstehen)! Damit scheint schon eine Zuordnung allein zur Innenwelt des Physikers nicht überzeugend, und noch deutlicher wird das, wenn man annimmt, daß er stirbt, sein Buch aber weiterhin gelesen wird. Obwohl also sein Modell ursprünglich aus seiner persönlichen Innenwelt hervorgegangen ist, ist es doch unabhängig von dieser.

Zur Außenwelt der physikalischen Objekte bzw. Gegenstände wird man es aber auch nicht rechnen wollen. Ein physikalisches Modell oder eine Theorie ist kein Gegenstand - ein solcher ist höchstes das einzelne Exemplar eines Buches, in dem diese Theorie aufgeschrieben ist, doch der Unterschied zwischen einem Buch und der Theorie, die im Buch steht, ist offensichtlich: ein Buch kann man einem Einbrecher über den Kopf hauen, wenn es dick und schwer genug ist, eine Theorie eben nicht.

Karl Popper, den ich ja schon erwähnt hatte, hat sich über solche Fragestellungen auch schon seine Gedanken gemacht und hat - sofern ich die kurzen Darstellungen in der Sekundärlitertut richtig verstanden habe - Theorien, aber auch solche Abstraktionen wie den Begriff der Zahl einer dritten Welt zugeordnet (Drei-Welten-Theorie). Die Zahlen wären demnach Erfindungen des menschlichen Geistes, durch die aber wieder neue, unabhängige Probleme geschaffen würden, die man dann erforschen und dabei nach Gesetzmäßigkeiten suchen kann.

Ich will hier einerseits diesen Gedanken aufgreifen, anderserseits aber einen etwas anderen Weg einschlagen. So hatte ich ja schon die Naturgesetze der Außenwelt angesprochen, die ich in ontologischer Hinsicht doch von den Gesetzmäßigkeiten der von menschlichen Wissenschaftlern kreierten Weltmodelle unterscheiden möchte. Denn die "eigentlichen" Naturgesetze hätten ja auch dann Gültigkeit, wenn das Universum unbewohnt wäre und es keine Wissenschaftler gäbe. Wissenschaftliche Theorien wie die Relativitätstheorie oder die Quantentheorie sind Schöpfungen menschlichen Geistes, wenn auch mit der Zielsetzung, die Außenwelt so getreu wie möglich darzustellen und zu erklären. Daher möchte ich die eigentlichen Naturgesetze als eine eigene ideelle Welt bezeichnen, die im direkten Zusammenhang mit der Außenwelt steht: zur realen ideelen Welt gehören zwar nicht die Objekte der physikalischen Außenwelt, aber die Gesetze, denen diese unterworfen sind. Dies wirft natürlich sofort die Frage auf: ist es überhaupt sinnvoll, diese Gesetzmäßigkeiten als eigene "Welt" zu bezeichnen, sie also als ontologisch eigenständig anzusehen?

In der Tat ließe sich ein gewichtiger Einwand dagegen vorbringen: jener nämlich, ob es überhaupt einen Sinn ergibt, die physikalischen Gesetze (oder allgemeiner: die Naturgesetze) abgetrennt von den Objekten, deren Verhalten sie beschreiben, zu betrachten. Man stelle sich einmal einen leeren Kosmos, der nur aus Raumzeit besteht, aber weder Materie noch Energie enthält, vor. Wäre es sinnvoll, in einem solchen leeren Kosmos von elektrodynamischen oder thermodynamischen Gesetzen zu schreiben (das eine Experimentalphysik als Grundlage der Physik generell als Erfahrungswissenschaft nicht möglich wäre, dürfte einleuchten - mal ganz davon abgesehen, daß niemand vorhanden wäre, der Wissenschaft betreiben könnte)? Das erscheint tatsächlich fragwürdig, aber wenn nun (vielleicht als Gast aus einem anderen Universum erscheinend) dieser leere Kosmos von einem Forscher mit seinem Laboratorium betreten würde, so könnte dieser Experimente mit Körpern, die er mitgebracht hat, durchführen und so versuchen, die physikalischen Gesetze jenes nun nicht mehr gänzlich leeren Universums zu erkunden. Demnach müßte es diese Gesetze (ob es dem Wissenschaftler jetzt wirklich gelingt, ein Weltmodell zu entwickeln, daß jenen Kosmos exakt abbildet, soll dabei im Moment keine Rolle spielen) entweder schon zuvor gegeben haben, als eine Eigenschaft jenes Universums, oder der Wissenschaftler hätte zusammen mit seinen Versuchsobjekten auch erst die entsprechenden physikalischen Gesetze eingeführt. Dieser Gedanke erscheint mir wenig überzeugend. Um es noch etwas anders auszudrücken: obwohl es in der Zeit kurz nach dem Urknall noch gar keine Uranatome gab (die wohl erst in Folge der ersten Supernovaexplosionen entstanden), waren doch schon die Naturgesetze vorhanden, die das Verhalten eines Uranatoms bestimmen - hätte es also unser etwas geheimnisvoller Wissenschaft fertigggebracht, in der frühen Welt ein Uranatom auszusetzen, so wäre sein verhalten doch schon bestimmt gewesen.

Daher erscheint es mir sinnvoll, Naturgesetze tatsächlich als eine eigene ideelle Welt anzusehen, die man wegen ihrer engen Verbindung zur Außenwelt auch als äußere ideelle Welt bezeichnen könnte.

Diese "eigentlichen" Naturgesetze, die die äußere ideelle Welt ausmachen, bleiben uns freilich verborgen, die Wissenschaft versucht, in einer Art Evolutionsprozeß der Theorien die weltbeschreibenden Modelle so weit zu verfeinern, bis man die wirklichen Gesetze gefunden hat, d.h. bis die Gesetze des beschreibenden Modells mit denen der Außenwelt übereinstimmen (wobei unter Übereinstimmung verstanden werden soll, daß eine Berechnung mittels des Modells das Verhalten eines realen Objekts - oder zumindest die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten, da im Bereich der Quantenphysik an manchen Stellen eben nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden können, wobei hier aber auch wieder gewisse Probleme, auch ontologischer Natur, auftreten - exakt beschrieben werden kann), wobei man sich eben selbst im Fall eines endgültigen Erfolges niemals sicher sein könnte, wirklich am Ziel zu sein, da es ebenso denkbar wäre, daß die Theorie und damit das Weltmodell noch eine Lücke aufweist, man aber noch nicht das Experiment durchgeführt hat, was eben diese Lücke sichtbar macht. Sie sind auf alle Fälle zu unterscheiden von den wissenschaftlichen Theorien, Modellen und Abstraktionen, die aus unseren Innenwelten hervorgehen.

Was für Objekte habe ich dabei vor Augen? Ein gutes Beispiel wären etwa die platonischen Ideen, soweit ich ihre Darstellung in den Werken der Sekundärliteratur, die ich gelesen habe, richtig verstanden habe. So wies Platon darauf hin, daß wir eine Vielzahl von Einzeldingen mit demselben Namen belegen: so bezeichnen wir Tiere mit bestimmten Merkmalen als "Pferd" und verwenden diesen Begriff für zahlreiche, individuell verschiedene Tiere. Der allgemeine Begriff, der sich auf die Spezies an sich bezieht (hier gibt es auch eine gewisse Verwandtschaft zum Äquivalenzklassenprinzip in der Mathematik, man könnte demnach zwei Tiere durch die Äquivalenzrelation "gehören der gleichen Spezies an" vergleichen und in Klassen einordnen, dann wäre "Pferd" die Klasse, das einzelne Tier ein Repräsentant dieser Klasse) ist für Platon eben nicht nur Abstraktion, sondern diesen Ideen kommt Realitätscharakter zu, und sogar eine höhere Form von Realität.

Was den letzten Punkt betrifft, möchte ich Platon lieber nicht folgen. Gerade mit Begriffen wie "höher" oder "vollkommener" sollte man ohnehin vorsichtig umgehen, um nicht auf Absurditäten wie den ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury zu verfallen (mit dessen Argument sich auch die Existenz von Einhörnern beweisen ließe, wie schon so mancher Spötter betont hat). Ich möchte in seinen Ideen eher eine Abstraktionsleistung sehen, also etwas, was aus der Innenwelt eines Bewußtseins hervorgegangen ist, aber tatsächlich Unabhängigkeit von dieser Innenwelt entwickeln kann (wie ich mit dem Beispiel des Buches, das noch gelesen wird, wenn sein Verfasser bereits tot ist, zu erläutern versucht habe) und daher auch durchaus als real bezeichnet werden kann. Solche Geistesschöpfungen, die aber unabhängig von ihrem Schöpfer weiter existieren können und vielleicht bestimmten Gesetzesmäßigkeiten unterliegen, möchte ich daher als innere ideelle Welt bezeichnen.

Freilich bleiben noch viele Fragen offen. So bin ich mir - wie ich an dieser Stelle auch freimütig einräumen möchte - keineswegs darüber im klaren, was konkret zur inneren ideellen Welt gerechnet werden soll. Besonders schwierig dürfte eine solche Einschätzung auf dem Gebiet der Mathematik sein. Denn einerseits könnte man große Teile der Mathematik als reine Schöpfung, etwas kreatives betrachten: so ist die Mathematik des Lebesgue-Integrals eine andere als die des Riemann-Integrals, was vor allem auf die verschiedenen Definitionen (und zugrunde gelegten Begriffe) zurückzuführen ist. Andererseits könnte man aber auf die nicht-euklidischen Geometrien auf gekrümmten Flächen (oder in gekrümmten Räumen!) hinweisen, von deren Existenz lange Zeit nichts geahnt wurde, obwohl es gekrümmte Flächen natürlich auch schon vorher gab. Die entscheidende Frage wäre also dabei, ob Gauß und andere Mathematiker des 19. Jahrhunderts die nicht-euklidischen Geometrien nun erfunden oder entdeckt haben. Mit den imaginären und komplexen Zahlen sieht es ähnlich aus. Ob man die mit diesen Begriffen verknüpften mathematischen Gesetze als Eigenschaften der Außenwelt und damit der äußeren ideellen Welt zugehörig betrachten oder sie als Kreationen und damit der inneren ideellen Welt zuschlagen soll, ist mir selbst noch nicht ganz klar.

Ein anderes Problem liegt bei den verschiedenen Spielarten von Kunstwerken vor. Denn auch hier stehen am Anfang bestimmte Ideen und vielleicht ideale Vorstellungen des Künstlers, die dann aber der Ausführung und damit der Konkretisierung, der Gestaltung und letztlich Manifestation bedürfen. Welcher der bisher erwähnten Welten das vollendete Kunstwerk zugerechnet werden soll, oder ob die Kunstwerke vielleicht auch zwischen diesen Welten stehen, möglicherweise sogar eine eigene Welt darstellen, ist ebenfalls unklar. Möglicherweise fällt die Antwort bei verschiedenen Kunstformen auch unterschiedlich aus. Dabei will ich es im Moment belassen und den Besonderheiten der Kunst später eine eigene Betrachtung widmen.

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