Samstag, 26. September 2009

Anmerkungen zu einem Weltbestseller

Hmm, über zwei Monate habe ich den Blog - aus verschiedenen Gründen - vernachlässigt, und eigentlich ist mein Beitrag zur Religion ja schon überfällig, aber der muß noch länger auf sich warten lassen. Was ich hier statt dessen schreiben werde, paßt aber trotzdem sehr gut, denn bei dem in der Überschrift erwähnten Weltbestseller handelt es sich um nichts anderes als die Bibel. Wobei man bei diesem Buch erst einmal sagen muß, von welcher Ausgabe man redet: ich habe die Lutherbibel in einer Ausgabe von 1967 gelesen.

Nun kann man gerade dieses Buch freilich auf ganz verschiedene Weisen lesen, und daher halte ich es erst mal für wichtig, auf diesen Aspekt einzugehen.

Im Prinzip kann man drei Hauptarten des Lesens unterscheiden:

1. Die atheistische: das ist die Art, auf die ich die Bibel gelesen habe: nicht als Heilige Schrift, sondern viel mehr als eine Textsammlung, zu der sehr viele verschiedene Autoren, die auch ganz verschiedene Intentionen hatten, etwas beigetragen haben, wobei auch die literarische Qualität stark schwankt, was vom atheistischen Standpunkt aus nicht erstaunlich ist. Dabei erzählt dieses Buch zum Teil reine religiöse Legenden (so etwa die Schöpfungsgeschichte), während andere biblische Bücher durchaus historische Wurzeln haben, wenn auch natürlich durch die religiöse Brille hindurch betrachtet und dementsprechend verzerrt.

Ich denke, dies ist die einfachste Art, die Bibel zu lesen: denn bei dieser Herangehensweise ist natürlich völlig einsichtig, warum es in diesem Buch haufenweise inhaltliche und teilweise auch gedankliche Widersprüche gibt.

2. Die fundamentalistische: auch diese Art, die Bibel zu lesen, ist einfach: demnach ist die Bibel unfehlbar und Wort für Wort wahr. Daß dies sämtlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Teil krass widersprecht (Alter der Welt etwa 6000 Jahre statt ca. 15 Milliarden!), stört den Fundamentalisten überhaupt nicht - wenn die wissenschaftliche Erkenntnis nicht mit dem Bibeltext zusammenpaßt, kann es sich ja nur um eine Lüge handeln, die vermutlich vom Satan persönlich in die Welt gesetzt wurde.

Schwierig an dieser Sichtweise sind aber die erwähnten Widersprüche: so können sich die vier Evangelisten ja noch nicht einmal darauf einigen, was Jesu letzte Worte am Kreuz waren, und die beiden bei Lukas und Matthäus zu findenden Stammbäume lassen sich auch überhaupt nicht zur Deckung bringen, um nur zwei Beispiel zu nennen - tatsächlich gibt es etliche. Aber interessanterweise scheint auch dies die Fundamentalisten nicht zu stören. Ich vermute, daß sie die Kunst des Orwellschen doublethink beherrschen und offenbar zur Perfektion gebracht haben. Ich dachte immer, das würde in Wirklichkeit nicht funktionieren - die Fundamentalisten haben mich da eines besseren belehrt. (Nebenbei: sollte sich ein Fundamentalist auf diese Seite verirren, so möchte ich ihm gleich sagen, daß er sich die Mühe, einen Beitrag, der die unbedingte Richtigkeit der Bibel belegt, zu verfassen, sparen kann, da ich keinesfalls meine Zeit mit einer Antwort darauf vergeuden werde).

3. Die dritte Art des Lesens ist die schwierigste: sie umfaßt im Prinzip alles, was zwischen den beiden anderen Arten liegt, es ist dies die Art, auf die der aufgeklärte Christ die Bibel liest. Dieser akzeptiert einerseits wissenschaftliche Ergebnisse und Theorien sowie auch den Umstand, daß es sich bei der Bibel um Menschenwerk handelt, das in vielen Generationen zusammengestellt wurde, andererseits ist sie für ihn als Christen eben auch nicht irgendein Buch. Daher wird man hier auch ein weites Spektrum an Herangehensweisen finden, von der eher traditionell kirchlichen über die kritische Exegese bis hin zu distanzierten Lesarten, die der atheistischen schon ziemlich nahekommen dürften.

Wie gesagt, ich bin auf die erste Weise an dieses Buch herangegangen. Das heißt natürlich, daß ich die Bibel nicht nur keineswegs als wahren Tatsachenbericht auffasse, wie es die Fundamentalisten tun, sondern auch in ethisch-moralischer Hinsicht für ein äußerst problematisches und janusköpfiges Werk halte, was nun wiederum insofern von Bedeutung ist, weil einem dieses Buch immer wieder mal als die denkbar wertvollste Quelle ethischer und moralischer Prinzipien vorgehalten wird, und das durchaus nicht nur von Evangelikalen und Fundamentalisten. Ich möchte gar nicht bestreiten, daß es viele wertvolle Gedanken und erhabene Stellen in diesem Buch gibt, und eine geschickte Zusammenstellung von Bibelzitaten könnte tatsächlich als ethische Richtlinie taugen. Aber man kann auch ebensogut eine lange Liste äußerst grausamer Bibelzitate zusammenstellen, in denen sich Moralvorstellungen artikulieren, nach denen kein vernünftiger Mensch leben wollte. Ich will hier (vorläufig) auf eine solche Zitatzusammenstellung verzichten, religiöse Menschen antworten darauf oft in der Form, daß sie ein anderes Zitat heraussuchen, und dann geht die große Streiterei los, ob das "gute" oder das "böse" Zitat eher als repräsentativ oder gewichtig anzusehen ist.


Soviel der Vorrede. Nun will ich endlich auf die Bibel selbst eingehen, und natürlich mit dem Alten Testament beginnen. Den gemeinsamen Nenner bei einer Anthologie zu finden, ist generell schwierig, und die Bibel als ganzes betrachtet stellt keine Ausnahme dar. Aber auch vom Alten Testament nur für sich betrachtet läßt sich mit Berechtigung ähnliches sagen, denn man findet dort Bücher, die vermeintlich (manchmal wohl auch tatsächlich) historische Begebenheiten schildern, dann wieder Sammlungen von Sprüchen oder Liedern, und schließlich noch prophetische Bücher. Trotzdem will ich einfach mal einen Versuch unternehmen: im Mittelpunkt des Alten Testaments steht der Bund zwischen Gott und dem Volk Israel, der als Bund zwischen Gott und Abraham bereits in der Genesis geschlossen wird und fortan das gedankliche Zentrum der meisten Bücher des Alten Testaments darstellt. Einerseits sind die Kinder Israel eben das von Gott auserwählte Volk, und alle anderen scheinen ihm nicht das geringste zu bedeuten, er benötigt sie nur ab und zu, um die Kinder Israel zu bestrafen, wenn sie den Bund vernachlässigt haben. Andererseits wird von ihnen absoluter Gehorsam verlangt, und so wird im Alten Testament auch kaum etwas vehementer verurteilt als der Ungehorsam. So erklärt sich übrigens auch - zum großen Teil zumindest - die erwähnte Janusköpfigkeit: denn es finden finden sich durchaus schon im Alten Testament sehr wohl Aufforderungen zur Nächstenliebe oder soziale Richtlinien, die aber offenbar nur innerhalb der Glaubensgemeinschaft, nicht aber für Heiden gelten. Diese dürfen mitunter nicht nur getötet werden, sehr oft (im Pentateuch, im Buch Josua, auch noch einmal im Buch Samuel) verlangt dies Gott sogar ausdrücklich von den Kindern Israel und gibt sehr genaue Anweisungen zum Völkermord. Ungläubige werden also von Nächstenliebe und ähnlichem mehr oder weniger stillschweigend ausgenommen.

Freilich würde wohl auch niemand das mosaische Gesetz so gern heute noch umgesetzt sehen (zumindest niemand, der einigermaßen aufgeklärt ist - manche Leute hätten sehr wohl ein Interesse daran), verlangt es doch die Hinrichtung Homosexueller, ungehorsamer Söhne und noch vieler anderer, um einige der schlimmsten Beispiele zu nennen. Doch dies soll im Moment sogar nur Randbemerkung sein, eine Randbemerkung, die allerdings nochmals unterstreicht, warum ich der Meinung bin, daß man die Bibel als ein bedeutendes Stück Weltliteratur lesen sollte, aber nicht als Richtschnur, wie man das eigene Leben zu führen hat. (Das gilt meiner Ansicht übrigens auch für das Neue Testament, aber auf dieses möchte ich dann doch lieber später eingehen.)

Nach solchen allgemeinen Anmerkungen möchte ich nun ein paar Worte über die einzelnen Bücher loswerden (wobei es mir auch um deren literarischen Wert gehen wird).

Das 1. Buch Mose, auch als Genesis bekannt, ist vermutlich das wichtigste (und inhaltlich auch bekannteste) des Alten Testaments, denn es erzählt nicht nur die biblische Schöpfungsgeschichte (die manche Schwachmaten unbedingt im naturwissenschaftlichen Schulunterricht verbreitet sehen wollen - leider gibt es solche Irren nicht nur im Amerika), sondern auch mehrere andere Legenden, und mit der Geschichte Abrahams, Isaaks, Jakobs und Josefs wird hier auch der Bund Gottes mit den Kindern Israel schon begründet.

Am Anfang steht der Schöpfungsmythos; allein vom literarischen Standpunkt aus betrachtet hat diese Geschichte unbedingt ihren Reiz. Gerade die Episode, die den Sündenfall erzählt, ist allerdings recht eigenartig, was die darin vermittelte Moral betrifft: zum ersten Mal begegnet uns hier in der Bibel der Ungehorsam als besonders verwerfliche Sünde, ja geradezu als die Ursünde überhaupt. (Das Alte Testament begnügt sich allerdings damit, mit dieser eigenartigen Geschichte den Hinauswurf der Menschen aus dem Paradies zu begründen, reitet jedoch noch nicht so genüßlich darauf herum wie später das Christentum mit seiner seltsamen Lehre von der Erbsünde, die zwar so richtig erst von Augustinus perfektioniert wurde, ihre Wurzeln aber schon im Römerbrief hat - aber damit greife ich voraus.) Aber ebenso unangenehm stößt an dieser Legende auf, daß gerade das Essen eines Apfels vom Baum der Erkenntnis hier zur Quelle allen Übels erhoben wird. Damit wird einer der unangenehmsten Züge der Religion allgemein deutlich, nämlich eben der, daß sie das Streben nach Erkenntnis durchaus nicht gutheißt, sondern vielmehr fordert, an eben die Antworten zu glauben, die sie gibt.

Ganz interessant ist die Sündenfall-Legende natürlich auch unter dem Blickwinkel des Theodizeeproblems: manche Leute behaupten ja, die Welt sei vollkommen gut gewesen bis zum Obstdiebstahl (und wichtiger, dem Ungehorsam) der Eva: selbst wenn man mal darüber hinwegsieht, daß diese Geschichte eine religiöse Legende ist, bleibt immer noch die Frage offen: wo kam dann die Schlange her? Ich will mich aber an dieser Stelle mit dieser kleinen Stichelei begnügen, das Problem der Theodizee rückt dann ohnehin noch im Buch Hiob ins Zentrum.

Auch für weitere Geschichten im 1. Buch Mose gilt, daß sie literarisch durchaus interessant sind, moralisch aber mehr als fragwürdig: solches gilt von der Sintflutgeschichte, dem in letzter Sekunde widerrufenen Befehl, den Abraham bekommt, seinen Sohn Isaak zu opfern, (auffällig daran: auch hier wird wieder besonderen Wert auf den Gehorsam gelegt!) und noch manch anderen Erzählungen. Am Ende der Genesis steht dann allerdings ein echtes literarisches Schmuckstück: die Joseph-Geschichte gehört zum schönsten und auch besten, was im Alten Testament überhaupt zu finden ist.

Im 2. Buch Mose ist die berühmte Geschichte des Auszugs Israels aus Ägypten zu finden, dem die biblischen Plagen vorausgehen. Dem nicht religiösen Leser fällt dabei allerdings auf, daß der Herr immer wieder das Herz des Pharaos verstockt, was den Verdacht aufkommen läßt, es ginge ihm vor allem darum, den Auszug aus Ägypten möglichst lange hinauszuzögern, um davor mit den Plagen zeigen zu können, was er so alles auf dem Kasten hat.

Weiter berichtet das zweite Buch Mose von der Verkündung der zehn Gebote und erzählt die ebenfalls recht bekannte Episode vom Goldenen Kalb; aus heutiger Sicht neigt man leicht dazu, dies als eine allegorische Kritik am Kapitalismus zu verstehen, doch im Zusammenhang gelesen wird klar, daß diese Episode gar nicht so gemeint war: es geht hier wirklich um das Verbot von Götzenbildern.

Nach der Verkündung der zehn Gebote ist der Pentateuch eher handlungsarm: nun werden im verbleibenden zweiten und den übrigen drei Büchern Mose vor allem allerlei Vorschriften und Gesetze verkündet, in manchen Fällen brauchbare und vernünftige Gesetze, sehr oft aber auch grausame und unzivilisierte. In literarischer Hinsicht ist es jedenfalls eine einzige Mühsal, diese Bücher zu lesen, in denen insbesondere in allen ermüdenden Einzelheiten irgendwelche Opfervorschriften verkündet werden.

Je näher die Kinder Israel dem Land kommen, das Gott ihnen versprochen hat, desto größeren Raum nehmen die Schilderungen ethnischer Säuberungen ein, mit denen die Bewohner dieses Landes kurzerhand beseitigt werden; hier zeigt sich das Alte Testament von einer seiner unangenehmsten Seiten. Ihren Höhepunkt erreicht diese Entwicklung schließlich im Buch Josua, in dem Jericho und zahlreiche andere Städte erobert und zerstört und deren Einwohner getötet werden. Die reine Schilderung der zahlreichen Massaker in diesem entsetzlichen Buch ist noch nicht einmal das schlimmste daran, denn solche Schilderungen findet man auch in anderen literarischen Werken, so etwa im Nibelungenlied, das mit einem entsetzlichen Blutbad endet. Während jedoch in den meisten anderen Kriegsschilderungen in der Literatur die Dichter immer noch (mehr oder weniger) distanziert berichten, werden die Massaker im Buch Josua als gottgewollt verherrlicht. Da kann man nur hoffen, daß es in späteren Jahrhunderten nicht mal irgendwelche neuen Heiligen Schriften geben wird, in denen Lobgesänge auf Massaker wie in Lidice, Oradour-sur-Glane, My Lai oder Srebrenica angestimmt werden. Nebenbei bemerkt gibt das Buch Josua auch unter literarischen Aspekten nicht viel her.

Sehr eigenartig ist hingegen das Buch der Richter. Auch hier gibt es zahlreiche schaurige Episoden (besonders das 19. Kapitel ist hier zu nennen) und grausame Details, aber auch eine so reizvolle Sage wie die vom Simson und Delilah. Ein Kernthema dieses Buches aber ist der wiederholte Abfall der Kinder Israel vom Bund mit Gott (für gewöhnlich lassen sie sich dann mit irgendwelchen babylonischen Baalen ein), der dann natürlich nicht ungestraft bleibt. Es sind dann die titelgebenden Richter, die Israel wieder auf den rechten Weg führen. Das Buch als ganzes wirkt recht inhomogen und läßt vermuten, daß hier verschiedene Texte zusammengefaßt wurden.

Klein, aber fein und voller Anmut ist dagegen das Buch Ruth, eines der kürzesten des Alten Testements, aber auch eines der wertvollsten. Im Mittelpunkt steht eine moabitische Frau (auch dies ist ein Novum im Alten Testament: erstmals ist eine Frau die zentrale Gestalt eines Buches), die nach dem Tod ihres jüdischen Mannes ihre Schwiegermutter bei deren Rückkehr nach Israel begleitet, dort abermals heiratet und eine direkte Vorfahrin König Davids wird.

Das 1. Buch Samuel vereint fast alle Vorzüge und Widerwärtigkeiten des Alten Testaments in einem Buch. Einerseits sind hier echte literarische Höhepunkte wie der berühmte Kampf zwischen David und Goliath oder die überaus anrührend erzählte Freundschaft zwischen David und König Sauls Sohn Jonathan zu finden, andererseits aber mit dem gräßlichen 15. Kapitel auch die vielleicht grausamste Passage der gesamten Bibel.

Das 2. Buch Samuel erzählt dann vor allem von der Regentschaft Davids als König: es enthält nicht ganz so viele Brutalitäten wie das vorige Buch, ist aber auch ärmer an Höhepunkten.

Das 1. Buch der Könige wiederum schildert vor allem die Herrschaft König Salomos; hier ist auch die Episode, die das berühmte Salomonische Urteil schildert, zu finden. Deutlich umfangreicher fällt aber die Schilderung des Tempelbaus aus, die ich persönlich als eher ermüdend empfand. Ein weiteres wesentliches Thema dieses Buches ist der Zerfall des Reiches in zwei Königreiche: Israel und Juda. Das 2. Buch der Könige handelt dann von den Taten weiteren Könige dieser beiden Reiche bis zur Babylonischen Gefangenschaft (wobei natürlich nur schwer feststellbar ist, wie nah oder weit entfernt die biblische Darstellung von den historischen Tatsachen ist); dabei folgt die Charakterisierung der verschiedenen Könige einem arg stereotypen Muster, gerade die israelischen Könige tun üblicherweise, was dem Herrn mißfällt, werden dann von ihm (meist mit ihren Nachkommen, ein Sippenhaftdenken ist im Alten Testament zwar nicht immer, aber doch an sehr vielen Stellen anzutreffen, so übrigens auch in der vollständigen Version des ersten Gebotes!) ausgerottet, wobei ihre Nachfolger es dann aber noch schlimmer treiben. Durch die häufige Wiederholung dieses Musters wird der Text in den Büchern der Könige nach einer Weile unfreiwillig komisch, zumindest für einen nicht religiösen Leser.

Die beiden Bücher der Chronik fand ich persönlich langweilig. Das erste Buch der Chronik mutet einem zunächst jede Menge Abstammungslisten zu, die zu lesen eine rechte Mühsal bedeutet; ansonsten werden in diesen beiden Büchern im wesentlich die Ereignisse der Samuel- und Königsbücher aus einer oft etwas veränderten Perspektive noch einmal erzählt (wobei im Detail Widersprüche nicht ausbleiben).

Die Bücher Esra und Nehemia schildern die Rückkehr der Israeliten aus der Babylonischen Gefangenschaft, wobei ein ausländerfeindlicher Ton an diesen Büchern auffällt: so werden alle Mischehen aufgelöst und die entsprechenden Ehepartner und daraus hervorgegangenen Kinder müssen die israelische Gemeinschaft verlassen (wobei dies angesichts dessen, was man sonst vom Alten Testament gewohnt ist, noch harmlos erscheint).

Das Buch Ester erzählt eine Geschichte mit deutlich märchenhaften Zügen, wie das Purimfest entstanden sein soll; es gilt als nicht historisch. Das Buch ist gut erzählt, die Rache der zunächst verfolgten Juden an ihren Feinden fällt dann allerdings so drastisch aus, wie man dies vom Alten Testament kennt.

Zu den herausragendsten Werken des Alten Testaments gehört dagegen das Buch Hiob. Es wird sogar zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur gerechnet, und dies mit gewisser Berechtigung. Während in den vorigen biblischen Büchern Leid und Unglück zumeist als göttliche Strafe für irgendwelche Verfehlungen dargestellt werden, geht es hier um einen frommen und gerechten Mann, der trotzdem vom Unglück getroffen wird - was seine "Freunde" so verstehen, daß er ja offenbar etwas auf dem Kerbholz haben müsse, womit er dieses Unglück verdient hätte. Hiob setzt sich dagegen zur Wehr. Diese Diskussion macht den größten Teil des Buches aus und wird auf literarisch hohem Niveau geführt; bemerkenswert ist dieses Buch aber auch wegen der reichlich galligen Töne, die Hiob in seiner Verzweiflung anschlägt, so macht dieses Buch eben auch deutlich, wie auch der frommste und gläubigste Mensch an der Welt verzweifeln kann. Neben dieser Haupthandlung gibt es noch eine Rahmenhandlung, die möglicherweise nachträglich hinzugefügt wurde, den Hauptbestandteil des Buches aber geschickt motiviert: demnach ist es ein Ringen zwischen Gott und dem Satan um die menschliche Seele, das hier stattfindet. Deutliche Einflüsse dieser Rahmenhandlung zeigen sich in Goethes "Faust", vor allem im "Prolog im Himmel". Vor allem aber ist dieses Buch eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Theodizeeproblem, der Frage also, wie es in einer von einem (angeblich guten) Gott geschaffenen Welt ein so hohes Maß an Leid geben kann, das auch den Gerechten nicht verschont. Daß das Buch darauf letztlich keine wirklich überzeugende Antwort gibt, darf nicht überraschen, das wäre von einer Heiligen Schrift auch zuviel verlangt. Der Wert dieses Buches ist daher auch eher darin, daß die Frage überhaupt aufgeworfen und mit großer Eindringlichkeit behandelt wird.

Der Psalter hingegen ist eine Sammlung von 150 religiösen Liedern, wobei hier eine große Diskrepanz zwischen der oft sehr poetischen und schönen Sprache einerseits, den Inhalten andererseits auffällt - denn letztere sind in vielen Fällen eher ärgerlich, wird doch den "Gottlosen" (zu denen ich mich ja auch zähle) alles nur erdenklich schlechte an den Hals gewünscht, in etlichen Psalmen sind solche Ausbrüche zu finden. Der bekannteste Psalm ist sicherlich der Psalm Nr. 23 ("Der Herr ist mein Hirte..."); mit gewisser Berechtigung, denn es ist wohl auch wirklich der schönste, und zudem fast völlig ohne martialische Töne.

Bei den Sprüchen Salomos handelt es sich in erster Linie um eine Sammlung von Salomo zugeschriebenen Sprichwörtern, wobei ein thematischer Schwerpunkt die Erziehung ist - gerade zu diesem Thema hat das Buch aber reichlich fragwürdige "Weisheiten" zu bieten, in denen ziemlich oft von Züchtigung die Rede ist. Allerdings werden auch ganz andere Themen angesprochen (so wird etwa vor Bürgschaften gewarnt, offenbar ein ganz altes Thema...), und wie es in einer solchen Sammlung wohl nicht überraschen kann, findet sich hier so mancher sinnvolle Satz, während anderes zum Widerspruch herausfordert und oft einfach antiquiert ist.

Der Prediger Salomo hingegen ist mein liebstes Buch nicht nur des Alten Testaments, sondern der Bibel überhaupt. Kein anderes Buch der gewaltigen Anthologie steht der Philosophie näher, wobei ein skeptischer, teilweise auch pessimistischer Ton vorherrscht. Der auffallend diesseitige Text handelt von der Vergänglichkeit unseres Lebens und all unserer Werke und setzt sich mit der Frage, wie es trotzdem möglich ist, ein erfülltes Leben zu führen. Selbst ein Hardcore-Atheist wie Richard Dawkins bezeichnet dieses Buch als "erhaben", und er tut dies völlig zu Recht.

Das Hohelied Salomos ist hochpoetisch (es hat in der Liebesszene von Ecos "Der Name der Rose" deutliche Spuren hinterlassen) und handelt von einer Hochzeit, wobei diese sowohl wörtlich als auch allegorisch gedeutet worden ist. Für die Exegeten trotz seiner Kürze ein durchaus schwieriges Buch, literarisch freilich auf einem sehr hohen Niveau.

Auf die prophetischen Bücher will ich nun nicht einzeln eingehen. Diesen Büchern kommt nun innerhalb des Alten Testaments eine besondere Rolle dadurch zu, daß sie von Juden und von Christen ganz unterschiedlich ausgelegt werden. Dabei ist im Hinblick auf das Neue Testament der Prophet Jesaja (der ja auch zu den "großen" Propheten gerechnet wird) vielleicht der wichtigste, zumindest nach meiner Einschätzung.

Generell kündigt sich in den Prophetenbüchern ein neuer Bund Gottes mit Israel an (wobei verschiedenfach angedeutet wird, daß auch Heiden in diesen neuen Bund mit einbezogen werden könnten) - selbstverständlich knüpfen die Christen genau hier an und meinen, dieser neue Bund sei durch Jesus bereits geschlossen worden. Ich fände es spannend, zu verfolgen, wie ein Pfarrer und ein Rabbiner sich über diese Dinge streiten, möchte mich selbst hier aber lieber mit Deutungen zurückhalten. Die prophetischen Bücher sind sehr bilderreich (wobei es vor allem Schreckensbilder sind, durch die sie sich auszeichnen) und literarisch fraglos zumindest in einzelnen Teilen reizvoll, aber eben auch sehr dunkel, so daß hier natürlich wild herumgedeutet wird.


Damit will ich meine Ausführungen zum Alten Testament auch beschließen (ich werde ab und zu noch darauf zurückkommen) und zum Neuen Testament übergehen. Das Neue Testament nur für sich zu lesen, halte ich für vergleichsweise witzlos, denn es baut auf dem Alten Testament auf und legt es nicht selten auch aus.

Trotzdem ist der Geist des Neuen Testaments ein erkennbar anderer. Glorifizierungen von Massakern wie in manchen Büchern des Alten Testaments findet man hier nicht, dafür die christliche Lehre, die sich einerseits in den Evangelien findet und dann vor allem in den Paulusbriefen ihr theoretisches Fundament erhält. Auf den ersten Blick scheint diese Lehre weitaus sanftmütiger und in ethischer Hinsicht fortgeschrittener zu sein als etwa das Mosaische Gesetz, das im Alten Testament eine so herausragende Rolle einnimmt. Allerdings sollte man sich hier nicht täuschen lassen: auch das Neue Testament nimmt für sich in Anspruch, die allein wahre Lehre zu beinhalten, und dies sogar in schrofferer Form als das Alte Testament. Während dieses auch eher diesseitig ausgerichtet war, ist im Neuen Testament oft vom ewigen Leben die Rede, und damit einher gehen auch stets die Warnungen vor der ewigen Verdammnis, der Hölle, von der im Alten Testament so gut wie gar nicht die Rede ist. Allein schon die Idee, daß ewige Pein eine gerechte Strafe wofür auch immer darstellen könnte, ist schon ziemlich abartig. Noch schlimmer ist aber, daß diese Strafe laut Neuem Testament alle Ungläubigen erwartet, ob sie also ein anständiges Leben geführt und Gutes getan haben oder nicht, ist vollkommen gleichgültig, der Glaube ist das alleinige Entscheidungskriterium. Dies hängt mit der Rechtfertigungslehre zusammen, die vor allem im Römerbrief entwickelt wird, doch von der ewigen Verdammnis ist auch schon in den Evangelien unangenehm oft die Rede. Was daran eine "Frohe Botschaft" sein soll, ist mir ein Rätsel, für mich ist es eher das genaue Gegenteil davon. Natürlich ließe sich nun (mit gewisser Berechtigung) einwenden, daß ich vor allem so rede, weil ich mich zu den nach biblischer Vorstellung später Verdammten zu rechnen hätte. Das ist auch so, aber auch dann, wenn ich wider Erwarten doch in den Genuß himmlicher Wonne und des ewigen Lebens käme, hätte ich doch keine Freude daran, solange überhaupt jemand mit ewigen Qualen bestraft würde.

Ich muß daher zugeben, daß das ganze Verdammnisgerede und auch solche Sprüche wie "Wer nicht für mich ist, ist wider mich" (wenn erinnert das nicht an den unsäglichen George W. Bush?) mir das Neue Testament doch recht gründlich verleidet haben, so daß ich alles in allem nicht behaupten kann, es wäre in ethischer Hinsicht wirklich höher einzuschätzen als das alte Testament, es ist nur auf andere Weise grausam. Bedauerlich ist das aber allemal, denn es gibt andererseits auch sehr viel wertvolle Gedanken darin, und auch in literarischer Hinsicht hat es mitunter einiges zu bieten.

Nach solchen allgemeinen Ausführungen will ich auch hier ein wenig auf die einzelnen Bücher, zumindest die wichtigsten, eingehen. Am Anfang stehen dabei die vier Evangelien (richtiger: die vier in den Bibelkanon aufgenommenen Evangelien, es gab nämlich - wie an sich auch bekannt sein dürfte - noch andere, die nun als Apokryphen in der Kirchen- und Literaturgeschichte herumgeistern). Meine grundsätzlichen Einwände gegen das Neue Testament habe ich ja schon vorgebracht, und zum Teil sind auch die Evangelien davon betroffen. Zugleich fällt auf, daß die Evagelisten sehr unterschiedliche Akzente setzen und fraglos auch verschiedene Intentionen hatten.

Das Evengelium nach Matthäus streicht ethische Forderungen besonders heraus, wobei die (größtenteils zu Recht) berühmte Bergpredigt in dieser Hinsicht den Gipfelpunkt darstellt. Ansonsten ist Matthäus bemüht, nachzuweisen, daß alttestementarische Prophezeihungen sich in Jesus erfüllt hätten - das tun zwar alle Evangelisten, Matthäus aber mehr als die anderen (wobei er manchmal auch danebengreift, denn so heißt es von der Flucht vor Herodes nach Ägypten, die nur Matthäus erzählt, daß sich durch sie eine Prophezeiung Jeremiahs erfüllt habe, doch wer die entsprechende Stelle bei Jeremiah liest, merkt, daß es gar keine Prophezeiung ist, sondern daß sie sich auf den Auszug Israels aus Ägypten bezieht und mit dem "Sohn" Gottes dort das israelische Volk gemeint ist). Ansonsten fällt auf, daß gerade dieses Evangelium auch einen durchaus streitbaren Jesus zeigt, mit dem nicht unbedingt gut Kirschen essen ist. Und schließlich möchte ich noch den recht ausführlichen eschatologischen Anteil des Evangeliums erwähnen: daß ich diesen nicht besonders mochte, dürfte nach meinen einleitenden Worten zum Neuen Testament wohl keine Überraschung sein.

Das Evangelium nach Markus ist das kürzeste, trotzdem aber von herausragender Bedeutung, weil es das älteste ist und sowohl Matthäus als auch Lukas darauf zurückgegriffen haben. Hier wird vor allem Jesus' Leben und Tun geschildert, während im Vergleich zu den beiden Großevangelien deutlich weniger Äußerungen zu finden sind. Diese eher knappe Darstellung hat aber durchaus auch ihre Vorzüge.

Das Evangelium nach Lukas wiederum ist das mir persönlich liebste, nicht so sehr, weil es in ethischer Hinsicht den anderen etwas wesentliches voraus hätte, sondern aus literarischen Gründen. Im Lukas-Evangelium finden sich besonders viele Gleichnisse, darunter solche Schätze wie jenes vom barmherzigen Samariter. Aber auch die beliebte Weihnachtsgeschichte weist Lukas als meisterlichen Erzähler aus; daher steht für mich unter rein literarischen Aspekten betrachtet dieses Evangelium am höchsten. Interessant ist ansonsten noch, wie Lukas mit dem Problem der Naherwartung (also der Hoffnung der ersten Christen auf die baldige Rückkehr Christi) umgeht: wie schon bei Markus und Matthäus sagt Jesus auch bei Lukas zu seinen Jüngern, das Reich Gottes werde kommen, noch bevor sie alle stürben - allerdings baut Lukas an anderer Stelle eine Art Hintertürchen ein, indem Jesus sagt, das Reich Gottes komme nicht so, daß man es mit Augen sehen könne, sondern sei mitten unter ihnen.

Das Evangelium nach Johannes unterscheidet sich deutlich von den drei synoptischen Evangelien. Sein Verfasser ist, wie gleich der Beginn des Evangeliums zeigt, offenbar mit den Gedanken griechischer Philosophen in Berührung gekommen. Insgesamt konnte ich mich mit diesem Evangelium (das aber bei vielen Christen überaus beliebt ist) nicht so recht anfreunden, es zeigt einen Jesus, der fast nur von sich selbst spricht; allerdings enthält es eine der großartigsten biblischen Stellen, als Jesus die Steinigung einer Ehebrecherin verhindert. Interessanterweise wurde wohl genau diese Stelle erst nachträglich ins Evangelium eingefügt - nun, wer auch immer dies tat, hat recht daran getan, die Passage ist das beste am ganzen Evangelium. Zumindest problematisch an diesem Evangelium ist die Darstellung der Juden, die deutlich negativere Züge hat als die in den synoptischen Evangelien. Nun wäre es andererseits wohl zu stark vereinfachend, das Evangelium direkt als antisemitisch zu bezeichnen, doch es könnte zu der Entstehung des christlichen Antisemitismus, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Christentums zieht, zumindest beigetragen haben.

Gegenstand der Apostelgeschichte ist vor allem das Wirken der Apostel Petrus und später Paulus sowie der Beginn der Mission von Heiden. Es gilt als sicher, daß der Verfasser auch der des Lukasevangeliums ist, die Apostelgeschichte ist in der Tat als eine Fortsetzung angelegt. Trotz allerlei Berichten über irgendwelche Wunder, denen man natürlich skeptisch gegenüber stehen

sollte, hat dieses Buch wohl auch durchaus seinen historischen Wert, weshalb Lukas auch als erster christlicher Historiker angesehen wird. Etwas merkwürdig ist der Umstand, daß die Apostelgeschichte zwar die Ankunft des Paulus in Rom schildert, nicht aber von seiner Gefangenschaft und seinem Tod. Das hat manche Leute zu der Vermutung geführt, die Apostelgeschichte sei zu einem Zeitpunkt verfaßt worden, als diese Ereignisse noch gar nicht stattgefunden hätten, was aber als unwahrscheinlich angesehen wird. Ich hatte mich daher gefragt, ob Lukas vielleicht sogar ursprünglich beabsichtigt hatte, auf das Evangelium und die Apostelgeschichte noch ein drittes Buch folgen zu lassen, das dann nicht mehr zur Ausführung gelangt wäre, aber diesen Gedanken scheint kein Wissenschaftler jemals in Betracht gezogen zu haben, so daß vermutlich nicht so besonders viel dran ist.

Die Paulus-Briefe wiederum stellen vermutlich das theologische Herzstück des Neuen Testaments dar; nicht alle Paulus ursprünglich zugeschriebenen Briefe sind wohl tatsächlich von ihm verfaßt worden, doch die wichtigsten stammen wohl in der Tat von ihm. Es sind in der Tat die bedeutendsten Briefe im Neuen Testament, während die anderen (Petrus-Briefe, Johannes-Briefe, etc.) weniger prägend gewesen sind. Die Briefe des Neuen Testaments sind auch insofern interessant, daß sie Einblicke in die Entwicklung des frühen Christentums ermöglichen: so standen sich ja zunächst Juden- und Heidenchristen gegenüber, und in diesem Spannungsfeld blieben auch Konflikte nicht aus, die sich zum Teil in diesen Briefen widerspiegeln.

Der bedeutendste dieser Briefe ist sicherlich der Römerbrief. Luther hielt ihn für das wichtigste Buch der Bibel überhaupt und pries ihn in einer Vorrede, die beinahe die Ausmaße des Briefes selbst hat. Wirkungsgeschichtlich betrachtet ist Luther wohl zuzustimmen, der Römerbrief hat einige der wichtigsten Gestalten der Kirchengeschichte (und somit der Geschichte des Christentums überhaupt) maßgeblich geprägt, Augustinus wäre hier etwa zu nennen und nicht zuletzt Luther selbst.

Was nun mich betrifft, so zeigt mir gerade dieser Brief eindringlich, warum mir das Christentum innerlich immer fremd bleiben wird. Paulus entwickelt hier die Rechtfertigungslehre, und wenn er auch den Begriff der Erbsünde noch nicht direkt verwendet (erst Augustinus hat ihn, wie oben schon erwähnt, benutzt), so ist doch das Fundament dieser Lehre hier schon zu finden. Auch Ansätze der Prädestinationslehre, die ich besonders scharf ablehne, lassen sich im Römerbrief entdecken. Und ganz allgemein stößt mir sauer auf, daß eben allein der Glauben zum Kriterium (wer erlöst und wer verdammt wird) erhoben wird - was für ein Leben jemand führt, scheint dagegen keine Rolle zu spielen. (Das ist nicht ganz fair: Paulus meint eigentlich, daß die guten Werke schon von selbst kommen würden, wenn jemand wirklich glaubt, und Luther folgt ihm auch hier. Die Geringschätzung der guten Werke ist also keine vollkommene, aber sie gelten diesen Herren eben nur etwas in Verbindung mit dem Glauben, werden ohne den Glauben aber als vollkommen bedeutungslos angesehen.) Für mich zeigt gerade diese abstoßende Irrlehre, daß Feuerbach nur allzu Recht hatte, als er schrieb: "Im Glauben liegt ein böses Prinzip." Genau so ist es.

Der 1. Brief an die Korinther ist größtenteils auch nicht mein Fall, mit einer wichtigen Ausnahme: das als "Hohelied der Liebe" berühmt gewordene 13. Kapitel gehört zum schönsten und tiefsten, was im Neuen Testament zu finden ist. Wenn das Neue Testament insgesamt immer einen solchen Ton anschlüge, würde ich mich um vieles freundlicher über das Christentum äußern.

Auf die anderen Briefe will ich hier nur kurz eingehen. Der Brief an die Galater ist eine Reaktion auf die Rückkehr zu jüdischen Ritualen in der angeschriebenen Gemeinde, die von Paulus getadelt wird - solche Dokumente sind einfach insofern von Interesse, weil sie sichtbar machen, wie aus dem Christentum, das von den Römern zunächst als jüdische Sekte betrachtet wurde und im Grunde genommen auch genau dies war, eine doch eigenständige und neue Religion entstand. Die zahlreichen weiteren, zumeist recht kurzen Briefe sind eher Ergänzungen; interessant sind die Ankündigungen der Endzeit im 2. Petrusbrief (der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vom Apostel Petrus stammt) und im Brief des Judas - beide dürften zu den spätesten Schriften des Neuen Testaments gehören. Eine Sonderstellung, und daher möchte ich ihn noch einmal ansprechen, nimmt der Brief des Jakobus ein. Dieser stellt ausdrücklich heraus, wie wichtig die guten Werke sind und schätzt dagegen einen Glauben, dem die guten Werke fehlen, eher gering. Natürlich war es genau diese Aussage, die Luther mißfiel, der ihn daher auch an eine der hintersten Stellen der Bibel verbannte; überflüssig zu erwähnen, daß ich gerade dies eher als einen Vorzug des Briefes ansehe, der zumindest ein leichtes Gegengewicht zu der in den paulinischen Briefen entwickelten Position darstellt. So sehe ich gerade dieses wenig geschätzte Buch als eines der wertvolleren des Neuen Testaments an.

Den grausigen Schlußpunkt stellt schließlich die Offenbarung des Johannes dar, die über weite Strecken so wirkt, als sei sie aus den prophetischen Büchern des Alten Testaments entsprungen. Tatsächlich ist dies eines der am schwersten deutbaren und seltsamsten biblischen Bücher, wobei der Strom von Schreckensbildern, der hier auf den Leser losgelassen wird, literarisch fraglos eindrucksvoll ist (und auch viele Meisterwerke der Malerei wurden davon inspiriert). Dabei wirken viele Motive vor allem aus dem apokalyptischen Teil des Buches Daniel vertraut, und auch manche Bilder aus dem Buch Jesaja scheinen hier ihre Spuren hinterlassen zu haben, so daß man auch von einer Christianisierung alttestamentarischer Prophezeiungen sprechen könnte. Fraglos war der Verfasser ein Judenchrist, so spielen etwa die zwölf Stämme Israels in der Offenbarung eine größere Rolle als in allen anderen Büchern des Neuen Testaments. Das Buch, das die Ostkirchen wohl nie anerkannten, ist einerseits eines der bekanntesten (das berühmte "Buch mit sieben Siegeln" ist ja längst zur Redewendung geworden, um ein Beispiel zu nennen), aber auch problematischsten, nicht zuletzt, was seine Rezeptionsgeschichte, in deren Verlauf immer wieder das unmittelbar bevorstehende Weltende angekündigt oder bestimmte Personen mit dem Antichrist identifiziert wurden, betrifft. Zuletzt wird das Ende der Welt geschildert, wobei der Teufel mit seinen Anhängern in den Pfuhl aus Feuer geworfen wird, wo sie dann gequält werden "Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit"; das gleiche Schicksal ereilt unter anderem dann auch die Ungläubigen. Da weiß man doch, worauf man sich schon freuen kann. Am Ende steht der eigentlich schöne Schlußsatz "Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen", der aber nach dem doch sehr gnadenlosen Finale, das dieses überaus finstere Buch ausmalt nicht so recht überzeugen will. Modern denkende und säkularen Menschen ist dieses Buch daher wohl auch nie so ganz geheuer gewesen, dafür lieben es die Evangelikalen und zahlreiche Sektierer.


Damit bin ich auch am Ende angekommen, und es ist wohl Zeit für ein kleines Fazit. Es lohnt sich, sich durch die 66 Bücher der Lutherbibel (die katholische Vulgata enthält wohl noch mehr) zu mühen, aus verschiedenen Gründen: zum einen gibt es literarisch vorzügliche Passagen darin zu entdecken, die einfach einen ganz eigenen Wert haben, egal, was man nun von Religion, Judentum oder Christentum hält. Daneben öffnet die Lektüre auch die Augen, was für einen ungeheuren kulturellen Einfluß die Bibel in den vom Christentum geprägten Ländern ausgeübt hat, allein die enorme Anzahl geflügelter Worte, die zu allgemeinen Redewendungen geworden sind, zeugt davon. Und nicht zuletzt ist es gerade auch für den nicht-religiösen Leser aufschlußreich, was für ein (oft totalitäres) Denken der christlichen Religion zugrunde liegt. Aus diesem Grunde taugt die Bibel freilich auch nicht als Leitfaden, wie man sein Leben führen sollte, denn wie ich schon oft betont habe, findet man neben ethisch wertvollen Prinzipien und Gedanken auch Grausamkeiten und einen bösartigen Absolutheitsanspruch; wenn man also ethische Richtlinien aus diesem Buch herausziehen will, muß man es selektiv lesen. Dies ist aber eigentlich nur dann möglich, wenn man sich erst einmal von dem Buch in seiner Gesamtheit, und seinem Anspruch, eine (unfehlbare) Heilige Schrift zu sein, vollständig lossagt - erst dieser Schritt ermöglicht nämlich die distanzierte Art des Lesens, die es dem kritischen Leser erlaubt, die Spreu vom durchaus vorhandenen Weizen zu trennen. Womit ich nicht behaupten will, daß nur Atheisten zu dieser Art des Lesens imstande sind, auch aufgeklärte, säkulare Christen sind selbstverständlich dazu in der Lage. Auch sie sollten daher auch einmal das komplette Riesenwerk lesen, um die Notwendigkeit, sich zu distanzieren, einzusehen (spätestens im Buch Josua wird das wohl jeder zivilisierte Leser tun). Aus diesen gründen gehört die Bibel in den Bücherschrank und sollte auch gelesen werden, aber nicht unbedingt als Heilige Schrift, sondern als Sammlung der Texte vieler verschiedener Autoren, wobei sowohl der ethische als auch der literarische Wert stark schwankt.

Mittwoch, 15. Juli 2009

Zur Wissenschaft

Ich habe bisher recht viel von der Wissenschaft gesprochen, doch eigentlich bezogen sich meine Ausführungen immer nur auf einen Teil der Wissenschaft, vor allem auf die Naturwissenschaft und dann noch auf Wissenschaften wie vielleicht die Wirtschaftswissenschaft, eventuell auch die Soziologie und Psychologie, ganz bestimmt aber nicht solche Zweige der Geisteswissenschaft wie Literaturwissenschaft oder Rechtswissenschaft. Die passen nämlich gar nicht so recht in mein Raster hinein, wie ich nun endlich einmal zugeben möchte.

Es sind also in erster Linie Naturwissenschaften, die ich im Blick habe, wenn ich hier über Wissenschaften schreibe, aber eben nicht ausschließlich diese. Über die Arbeitsweise dieser Wissenschaften habe ich ja schon einige Worte verloren und hoffe nun, meinen Lesern nicht allzuviel an Redundanz zuzumuten, schließlich ist das hier keine heilige Schrift (heilige Schriften zeichnen sich unter anderem durch ihr enorm hohes Maß an Redundanz aus).

Ich hatte schon erwähnt, daß man häufig anfangs von idealisierten Annahmen ausgeht, um überhaupt erst einmal grundlegende Erkenntnisse zu gewinnen, und dann anschließend die so entstehenden Theorien verbessert, indem man sie schrittweise der Realität anpaßt. Dazu vielleicht ein paar Beispiele: in der Thermodynamik gibt es denn Begriff des idealen Gases. Mit diesem beschreibt man zwar kein reales Gas wirklich (wobei aber gerade Edelgase dem idealen Gas schon recht nahe kommen), aber man gelangt trotzdem zu einer sinnvollen ersten Theorie, die sich dann verbessern läßt, indem man sie so modifiziert, daß man eine Theorie der realen Gase bekommt. Warum dieser Umweg? Einfach deshalb, weil dieser Weg einfacher zu begehen ist, als sofort mit dem realen Gas zu beginnen (daher spielen solche Vereinfachungen und Idealisierungen auch besonders in der jeweiligen Fachdidaktik eine große Rolle, so wird im schulischen Physikunterricht etwa der Einfluß der Reibung in der Luft gern ignoriert, einfach deshalb, weil die Berechnungen ansonsten für Schüler zu schwierig wären.

Auch andere Wissenschaften kennen solche Vereinfachungen, so etwa die Volkswirtschaft den idealen Markt. Auch hier hat man es mit einer Wirklichkeit zu tun, deren Komplexität zunächst so unüberschaubar ist, daß man erst man nicht weiterkommt; man entwickelt daher ein vereinfachtes Modell, das man, sobald man seine Gesetzmäßigkeiten verstanden hat, auf die Realität anwenden kann, um zu sehen, inwieweit es noch verbesserungsbedürftig ist.

Jetzt hat sich doch jede Menge Redundanz in meinen Text eingeschlichen, wohl ein Zeichen dafür, daß ich das Thema abschließen sollte. Wichtig ist aber vor allem im Zusammenhang mit den nächsten Themen: Wissenschaft ist an sich immer ein Prozeß, sie ist im Werden, selten vollständig abgeschlossen. Natürlich gibt es andererseits auch, um Mißverständnisse zu vermeiden, einen Fundus an Wissen, der mit Berechtigung als gesichtert gelten kann - und dieser wird immer größer. Umwälzende Theorien, die alles bisherige auf den Kopf stellen, sind in der Wissenschaft sehr selten (die Kontinentalbewegung wäre vielleicht ein Beispiel, daher dauerte es auch besonders lange, bis sich diese Theorie durchgesetzt hatte), normalerweise beseitigt eine neue Theorie eher Lücken der früheren und erweitert die alten Theorien, ohne sie völlig zu verdrängen.

Freilich setzt sich die Wissenschaft eben auch immer wieder mit ihren Arbeitsmethoden auseinander. Wichtig ist für die Anwendung einer wissenschaftlichen Theorie insbesondere, daß sie sich damit auseinandersetzt, an welche Voraussetzungen sie geknüpft ist: als vorbildlich kann in dieser Hinsicht die Mathematik gelten, denn in jedem mathematischen Satz wird zunächst angegeben, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit der Satz überhaupt Gültigkeit besitzt. Andere Disziplinen sind da weniger gründlich und vergessen diesen Aspekt gern, doch wenn man diesen Punkt vernachlässigt, hört Wissenschaft schnell auf, Wissenschaft zu sein: insbesondere geht dann auch ihr offener Charakter weitgehend verloren, der an sich ein wesentliches Merkmal der Wissenschaft ist. In den nächsten beiden Abschnitten werde ich dagegen auf zwei geschlossene Denksysteme eingehen, wobei es sich in einem Fall tatsächlich um pervertierte Wissenschaft handelt.

Samstag, 27. Juni 2009

Überlegungen zur Evolution des Verstandes und zur Entstehung der inneren ideellen Welt

Ich hatte bei der Formulierung der Axiome, deren Gültigkeit ich an den Anfang aller meiner Überlegungen gesetzt habe, schon einmal die Instrumente des Verstandes, die eine Auswertung der Sinneseindrücke ermöglichen, angesprochen: unsere Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern, sie zu vergleichen und schließlich Abstraktionen vorzunehmen.

Ich will nun noch einmal auf diese Instrumente des Verstandes zurückkommen und kurz auf deren Entstehung eingehen, wobei ich aber nicht zu sehr ins Detail gehen möchte, weil ich in dieser Hinsicht mit dem Stand der Forschung nicht gut genug vertraut bin, insofern ist dieser Abschnitt auch mit noch etwas mehr Vorsicht zu genießen als das, was ich ansonsten von mir gebe.

Dabei nehme ich einen konsequent evolutionären Standpunkt ein, ich gehe also von der allmählichen Entstehung der geistigen Fähigkeiten, die den heutigen Menschen auszeichnen, aus. Das führt zu der interessanten Frage, wie Geist und Bewußtsein überhaupt entstanden sind. Ein Evolutionsbiologe könnte diese Frage sicherlich fundierter beantworten. Ich vermute jedoch, daß dies nicht in Form eines plötzlichen Evolutionssprungs geschehen ist (so dürfte wohl keiner unserer Vorfahren einen schwarzen Monolithen berührt und danach neue geistige Fähigkeiten entwickelt haben), sondern ein schleichender Prozeß war. Ich hatte ja schon die Instinkte angesprochen, die man als angeborene Verhaltensprogramme bezeichnen könnte, wobei diese Programme sicher auch das Ergebnis eines langen evolutionären Prozesses sind.

Wie könnte nun das Bewußtsein entstanden sein? Ich hatte ja bereits vermutet, daß die Entwicklung des Gedächtnisses als Grundlage aller Erfahrungsauswertung am Anfang gestanden haben könnte. Bekanntlich setzen sich im Rahmen der natürlichen Selektion - zumindest in der Masse - die am besten an ihre Umwelt angepaßten Lebewesen durch; das bedeutet, daß das einzelne Individuum durch seine gute Anpassung natürlich erst einmal nur eine verbesserte Überlebenschance hat. Doch wenn man eine Vielzahl von Lebewesen, insbesondere eine ganze Spezies betrachtet, dann kann man durchaus konkrete Aussagen über die Gesamtheit machen, und von den besser angepaßten Individuen einer Spezies werden sich eben deutlich mehr behaupten und damit auch fortpflanzen können als von den schlechter angepaßten.

Offenbar wurden bei unseren Vorfahren schon vor sehr langer Zeit Potentiale des Gehirns zur intellektuellen Verarbeitung erfahrener Sinneseindrücke immer weiter entwickelt, während die Instinkte an Bedeutung verloren. Vorteilhaft sind solche Fähigkeiten wohl vor allem bei sich schnell verändernden Lebensbedingungen: ein angeborenes Programm bringt dann nicht viel, während die Möglichkeit, Erfahrungen ganz individuell zu verarbeiten, die Orientierung auch in einer sich verändernden oder gar ganz fremden Umwelt ermöglichen kann. Hat dieser Aspekt dabei tatsächlich eine entscheidende Rolle gespielt? Ich weiß es nicht, halte es aber für möglich.

Ich vermute nun, daß sich die geistigen Fähigkeiten in ungefähr dieser Reihenfolge entwickelt haben dürften:


1. Gedächtnis

2. Vergleichsmöglichkeit

3. Induktive Schlüsse

4. Abstraktionsfähigkeit

Die ersten drei Fähigkeiten sind fraglos auch bei gar nicht mal so wenigen Tierarten schon anzutreffen, bei höher entwickelten Tieren wohl auch - zumindest in Ansätzen - schon die vierte Fähigkeit. So kann ich mich an ein (in einer Fernsehsendung gesehenes) Experiment (das ich jetzt hoffentlich korrekt beschreibe!) von Verhaltensforschern erinnern, das mit einem Menschenaffen durchgeführt wurde: dieser sollte einen bestimmten Gegenstand in einer Wohnung (oder zumindest eingerichteten Räumlichkeiten) finden. Dabei wurde dem Affen zunächst ein maßstabsgerechtes Modell der Wohnung gezeigt, inklusive eines Modells des Gegenstands. Die Affendame wußte das Modell in der Tat richtig zu lesen und steuerte den eigentlichen Gegenstand zielstrebig an, ohne erst lange zu suchen. Die dafür erforderliche Übertragung vom verkleinerten Modell auf die eigentliche Wohnung ist sicher eine Abstraktionsleistung.

Soviel zur Evolution des Verstandes - wie gesagt, hier fühle ich mich nicht wirklich kompetent, Evolutionsbiologen, Verhaltensforscher und noch andere Wissenschaftler, die in benachbarten Gebieten tätig sind, könnten sicher weitaus fundierter darüber schreiben. Ich wollte nur deshalb noch einmal auf die Vorgeschichte des menschlichen Verstandes eingehen, weil sie (meiner Meinung) dessen Struktur verständlicher macht.

Das gilt etwa für unsere Vorstellung von Zeit und Raum. Ich neige stark zu der Vermutung, daß tatsächlich eine Vorstellung von beidem schon in unserem Verstand angelegt ist, also noch vor der Erfahrung steht - und dies dürfte in der Tat eine euklidische Raumvorstellung sein und eine solche einer absoluten Zeit. Gegen die zweite Behauptung ließe sich nun einwenden, daß gerade das Zeitgefühl stark situationsabhängig und relativ sei. Dieser Einwand ist zunächst einmal richtig; Thomas Manns Meisterwerk "Der Zauberberg" (aus dem übrigens auch mein Name Settembrini stammt) ist voller tiefsinniger Reflexionen zum Zeitempfinden, um nur ein Beispiel zu nennen. Trotzdem gibt es aber auch so etwas wie ein absolutes Zeitgefühl, denn wenn man einen Menschen auffordert, nur mit seinem subjektiven Gefühl eine kurze Zeit zu messen, werden die Ergebnisse gar nicht so schlecht sein. Auch das Zusammenspiel der Musiker eines Orchesters zeugt von einem solchen absoluten Zeitgefühl, ohne daß ein koordiniertes Spielen gar nicht möglich wäre. Offenbar gibt es also eine Art von "innerer Uhr". Warum aber verschätzt man sich mitunter so gründlich, wenn es darum geht, wie viel Zeit seit einem bestimmten Moment schon vergangen ist? Nun, dies geschieht wohl vor allem dann, wenn man sich eine Weile nicht mit der inneren Uhr beschäftigt, sondern liest, Musik hört, versucht, der unverständlichen Vorlesung eines schlechten Professors zu folgen und dergleichen mehr. In solchen Fällen vernachlässigt man eine Weile die "innere Uhr" und wird von jeweiligem Interesse oder eben der entsprechenden Langweile getäuscht.

Nun wissen wir allerdings seit Einstein, daß Zeit und Raum eben nicht absolut sind, und der Raum muß obendrein auch nicht ohne weiteres euklidisch sein. Doch auf einen gekrümmten Raum oder Zeitdilatation ist unser Verstand nicht vorbereitet, man kann diese Dinge wissen und im physikalischen Sinne auch verstehen, man kann sie sich aber nicht vorstellen. Hier ist der im Verlauf der Evolution entstandene menschliche Verstand erst einmal überfordert. Wie dies passieren konnte, ist aber nicht schwer zu verstehen: relativistische Effekte spielen im alltäglichen Leben und damit in einer Umwelt wie jener, in der praktisch die gesamte Evolution stattgefunden hat, überhaupt keine erwähnenswerte Rolle. Es bestand daher auch keinerlei Selektionsdruck, ein entsprechendes Raum- oder Zeitempfinden zu entwickeln. (Die Frage, ob das überhaupt möglich ist, da man die Zeitdilatation ja gar nicht feststellen kann, wenn man sich nur in einem Inertialsystem aufhält ohne die Möglichkeit, den Vergleich mit einem anderen System anzustellen, will ich dabei einfach mal außen vor lassen.)


Entscheidend ist an dieser Evolution des Verstandes bis hin zur fortgeschrittenen Abstraktionsfähigkeit vor allem, daß sie die Grundlage für die Entstehung dessen ist, was ich als innere ideelle Welt bezeichnet habe. Dabei lohnt es sich vielleicht zu erwähnen, daß diese Gedankenkonstrukte der inneren ideellen Welt aber nicht einfach im luftleeren Raum schweben, sondern doch in direktem Bezug zur Außenwelt stehen. Vorstellungen wie die Platonischen Ideen sind zunächst einmal aus der Anschauung heraus entwickelt. Auch weitergehende Ideen, die nicht auf ein konkretes Vorbild aus der Außenwelt zurückzuführen sind, stehen doch immer in einem Bezug der Außenwelt, und sei es nur als Projektion.

Aus dem idealen Charakter der ideellen Welt einerseits, ihrem Verweisen auf die reale Außenwelt andererseits entsteht nun ein Spannungsverhältnis. Die ideele Welt mit ihren idealisierten Vorstellungen, ihren Ideen, ihrer den Beschränkungen des Konkreten enthobenen Geistigkeit übt auf ein Mängelwesen wie den Menschen, der zudem in einer alles andere als idealen Welt zurechtkommen muß, eine hohe Anziehungskraft aus, die oft mit dem Bedürfnis einhergeht, etwas von der Idealität dieser ideellen Welt in die konkrete Realität der Außenwelt hineinzutragen. Das kann unter Umständen sehr fruchtbar sein, unter Umständen aber auch verheerend. Andererseits können die Idealisierungen der ideellen Welt aber auch nützlich sein, um zu Erkenntnissen über die Außenwelt zu gelangen (unter der Voraussetzung, daß eine solche Erkenntnis wirklich möglich ist).

Das klingt nun alles etwas schwammig, soll nun aber konkretisiert werden. Ich möchte vor allem vier Felder ein wenig unter die Lupe nehmen, die von dem Spannungsverhältnis zwischen Außenwelt und (innerer) ideeller Welt geprägt sind:

1. Die Wissenschaft: Hierzu habe ich schon einiges gesagt, daher wird die Betrachtung kurz bleiben können. Zur Methode der Naturwissenschaft (die zum Teil von den Sozialwissenschaften übernommen worden ist), Beobachtungen der realen Welt in idealisierten (das heißt in aller Regel vereinfachten) Modellen abzubilden, deren immanente Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und so aus dem Modell Vorhersagen herauszuziehen, die dann durch neuerliche Beobachtungen der Außenwelt überprüft werden können, hatte ich ja schon ein wenig darzustellen versucht. Wichtig ist dabei: die (Natur)wissenschaft geht erst einmal vom konkreten, von der Außenwelt mit ihrer Komplexität und ihrer Unvollkommenheit, auch ihrer Materialität aus und bedient sich der Idealität der ideellen Welt, um auf diesem Umweg das Wesen der konkreten Außenwelt zu ergründen.

2. Ganz anders liegt der Fall in der Religion: diese geht vom Geistigen aus, und sieht die ideelle Welt letztlich als die höhere, die vorrangige an. Während die Naturwissenschaft von der Materie ausgeht und auf diesem Weg auch den Geist zu ergründen ersucht, geht die Religion vom Geist aus und tendiert dazu, die Materie nur als Manifestation des (göttlichen) Geistes zu betrachten. Das soll als Vorrede erst einmal genügen.

Natürlich wird einem aufmerksamen Leser nicht entgehen, daß ich hier ein wenig gemogelt habe, denn auch die Philosophie stellt ja ihrem Wesen nach eine Wissenschaft dar. Trotzdem trifft im Fall der Philosophie meine auf die Naturwissenschaft gemünzte Beschreibung der Wissenschaft durchaus nicht immer zu, die Philosophie vieler Denker steht der Religion deutlich näher. Wenn man daher Naturwissenschaft und Religion als die Enden eines weiten Spektrums verstehen will, dann deckt die Philosophie praktisch dieses gesamte Spektrum ab.

3. Freilich kann auch die Wissenschaft, wobei hier Philosophie und Sozialwissenschaften erfahrungsgemäß sehr viel anfälliger sind als Naturwissenschaften, selbst einen religionsartigen Charakter annehmen, sie wird dann zur Ideologie. Auch dies wird mir noch eine Betrachtung wert sein.

4. Völlig anders als die zuvor genannten Disziplinen geht dagegen die Kunst vor. Auch der Künstler geht letztlich von einer Idee (die ihm vermutlich als ideal oder vollkommen erscheinen wird) ausgehen und versucht diese umzusetzen, sie zu konkretisieren. Anders jedoch als der Ideologe etwa geht er aber in einem viel bescheideneren Rahmen vor: er versucht nicht die ganze Wirklichkeit seiner Idee anzupassen, sondern lediglich sein persönliches Werk, daher kann er auch niemals so viel Schaden anrichten. Zudem wird der Künstler in aller Regel danach streben, die Realität der Außenwelt in seinem Werk widerzuspiegeln, er strebt also einerseits die Vollkommenheit einer Ideenwelt an, versucht andererseits aber auf die Außenwelt in ihrer unvollkommenen Konkretität zu verweisen; mehr noch, auch seine Idee wird in aller Regel in der Außenwelt wurzeln. Damit schlägt er, wenn auch mit völlig anderen Methoden, einen ähnlichen Weg wie der Wissenschaftler ein, der ebenfalls auf dem Umweg über die idealisierte ideelle Welt die Außenwelt zu verstehen versucht.

Auf diese vier Bereiche werde ich als nächstes etwas genauer eingehen, wobei ich zur Wissenschaft schon einiges gesagt habe und daher versuchen werde, mich kurz zu fassen.

Sonntag, 21. Juni 2009

Ideelle Welten

Ich will noch einmal zusammenfassen: die einzige Welt, deren Existenz uns als wirklich sicher gelten kann, ist die ganz persönliche Innenwelt, die jeder in seinem Kopf mit sich herumträgt; um aber darüber hinauszukommen, hatte ich (wie es zweifellos schon viele vor mir getan haben) die Existenz der Außenwelt axiomatisch vorausgesetzt, und sogar weitere Annahmen getroffen: so die Existenz von Naturgesetzen, die das Geschehen in der Außenwelt prägen. Ich hatte darüber hinaus vorausgesetzt, daß unsere Sinneseindrücke von dem Geschehen in der Außenwelt beeinflußt werden, daß so eine zumindest indirekte Erkenntnis möglich ist, die sich durch naturwissenschaftliche Methodik sogar beträchtlich verbessern läßt. Dabei entwirft man letztlich Weltmodelle (die teilweise vereinfacht sind, wobei man natürlich anstrebt, die Modelle so weit zu entwickeln, daß man zuletzt alle vereinfachenden Einschränkungen hinter sich läßt), die sich mathematisch beschreiben lassen, so daß man zumindest die Gesetze kennt, denen das entsprechende Modell unterliegt. Wenn es gelänge, ein Weltmodell zu entwerfen, daß die Vorgänge der Außenwelt originalgetreu widerspiegeln würde und zugleich die Gesetzmäßigkeiten dieses Modells vollständig verstünde, dann hätte man die eigentlichen Gesetze der Außenwelt erkannt. (Die Physiker des späten 19. Jahrhundert waren der Ansicht, diesem Ziel bereits so nahe gekommen zu sein, daß es für junge Leute eigentlich nicht mehr lohnend wäre, Physik zu studieren, da es dort kaum noch etwas zu entdecken gäbe. Sie sind gründlich eines besseren belehrt worden.)

Die Frage ist nun, ob es sinnvoll ist, die Existenz weiterer Welten anzunehmen? Gehören etwa die eben angesprochenen Weltmodelle zur Innen- oder zur Außenwelt? Beide Zuordnungen erscheinen als unbefriedigend. Natürlich ist ein Weltmodell, daß ein Physiker entwirft, ein Bestandteil seiner Innenwelt, oder zumindest entspringt es aus dieser. Doch wenn er sein Modell in einem Buch festhält, das ein anderer liest, ist es plötzlich auch in der Innenwelt des Lesers vorhanden (möglicherweise verzerrt, wenn der Leser das Buch nicht begriffen hat, oder ganz im Sinne des Physikers, wenn der Leser kompetent genug ist, das Buch wirklich zu verstehen)! Damit scheint schon eine Zuordnung allein zur Innenwelt des Physikers nicht überzeugend, und noch deutlicher wird das, wenn man annimmt, daß er stirbt, sein Buch aber weiterhin gelesen wird. Obwohl also sein Modell ursprünglich aus seiner persönlichen Innenwelt hervorgegangen ist, ist es doch unabhängig von dieser.

Zur Außenwelt der physikalischen Objekte bzw. Gegenstände wird man es aber auch nicht rechnen wollen. Ein physikalisches Modell oder eine Theorie ist kein Gegenstand - ein solcher ist höchstes das einzelne Exemplar eines Buches, in dem diese Theorie aufgeschrieben ist, doch der Unterschied zwischen einem Buch und der Theorie, die im Buch steht, ist offensichtlich: ein Buch kann man einem Einbrecher über den Kopf hauen, wenn es dick und schwer genug ist, eine Theorie eben nicht.

Karl Popper, den ich ja schon erwähnt hatte, hat sich über solche Fragestellungen auch schon seine Gedanken gemacht und hat - sofern ich die kurzen Darstellungen in der Sekundärlitertut richtig verstanden habe - Theorien, aber auch solche Abstraktionen wie den Begriff der Zahl einer dritten Welt zugeordnet (Drei-Welten-Theorie). Die Zahlen wären demnach Erfindungen des menschlichen Geistes, durch die aber wieder neue, unabhängige Probleme geschaffen würden, die man dann erforschen und dabei nach Gesetzmäßigkeiten suchen kann.

Ich will hier einerseits diesen Gedanken aufgreifen, anderserseits aber einen etwas anderen Weg einschlagen. So hatte ich ja schon die Naturgesetze der Außenwelt angesprochen, die ich in ontologischer Hinsicht doch von den Gesetzmäßigkeiten der von menschlichen Wissenschaftlern kreierten Weltmodelle unterscheiden möchte. Denn die "eigentlichen" Naturgesetze hätten ja auch dann Gültigkeit, wenn das Universum unbewohnt wäre und es keine Wissenschaftler gäbe. Wissenschaftliche Theorien wie die Relativitätstheorie oder die Quantentheorie sind Schöpfungen menschlichen Geistes, wenn auch mit der Zielsetzung, die Außenwelt so getreu wie möglich darzustellen und zu erklären. Daher möchte ich die eigentlichen Naturgesetze als eine eigene ideelle Welt bezeichnen, die im direkten Zusammenhang mit der Außenwelt steht: zur realen ideelen Welt gehören zwar nicht die Objekte der physikalischen Außenwelt, aber die Gesetze, denen diese unterworfen sind. Dies wirft natürlich sofort die Frage auf: ist es überhaupt sinnvoll, diese Gesetzmäßigkeiten als eigene "Welt" zu bezeichnen, sie also als ontologisch eigenständig anzusehen?

In der Tat ließe sich ein gewichtiger Einwand dagegen vorbringen: jener nämlich, ob es überhaupt einen Sinn ergibt, die physikalischen Gesetze (oder allgemeiner: die Naturgesetze) abgetrennt von den Objekten, deren Verhalten sie beschreiben, zu betrachten. Man stelle sich einmal einen leeren Kosmos, der nur aus Raumzeit besteht, aber weder Materie noch Energie enthält, vor. Wäre es sinnvoll, in einem solchen leeren Kosmos von elektrodynamischen oder thermodynamischen Gesetzen zu schreiben (das eine Experimentalphysik als Grundlage der Physik generell als Erfahrungswissenschaft nicht möglich wäre, dürfte einleuchten - mal ganz davon abgesehen, daß niemand vorhanden wäre, der Wissenschaft betreiben könnte)? Das erscheint tatsächlich fragwürdig, aber wenn nun (vielleicht als Gast aus einem anderen Universum erscheinend) dieser leere Kosmos von einem Forscher mit seinem Laboratorium betreten würde, so könnte dieser Experimente mit Körpern, die er mitgebracht hat, durchführen und so versuchen, die physikalischen Gesetze jenes nun nicht mehr gänzlich leeren Universums zu erkunden. Demnach müßte es diese Gesetze (ob es dem Wissenschaftler jetzt wirklich gelingt, ein Weltmodell zu entwickeln, daß jenen Kosmos exakt abbildet, soll dabei im Moment keine Rolle spielen) entweder schon zuvor gegeben haben, als eine Eigenschaft jenes Universums, oder der Wissenschaftler hätte zusammen mit seinen Versuchsobjekten auch erst die entsprechenden physikalischen Gesetze eingeführt. Dieser Gedanke erscheint mir wenig überzeugend. Um es noch etwas anders auszudrücken: obwohl es in der Zeit kurz nach dem Urknall noch gar keine Uranatome gab (die wohl erst in Folge der ersten Supernovaexplosionen entstanden), waren doch schon die Naturgesetze vorhanden, die das Verhalten eines Uranatoms bestimmen - hätte es also unser etwas geheimnisvoller Wissenschaft fertigggebracht, in der frühen Welt ein Uranatom auszusetzen, so wäre sein verhalten doch schon bestimmt gewesen.

Daher erscheint es mir sinnvoll, Naturgesetze tatsächlich als eine eigene ideelle Welt anzusehen, die man wegen ihrer engen Verbindung zur Außenwelt auch als äußere ideelle Welt bezeichnen könnte.

Diese "eigentlichen" Naturgesetze, die die äußere ideelle Welt ausmachen, bleiben uns freilich verborgen, die Wissenschaft versucht, in einer Art Evolutionsprozeß der Theorien die weltbeschreibenden Modelle so weit zu verfeinern, bis man die wirklichen Gesetze gefunden hat, d.h. bis die Gesetze des beschreibenden Modells mit denen der Außenwelt übereinstimmen (wobei unter Übereinstimmung verstanden werden soll, daß eine Berechnung mittels des Modells das Verhalten eines realen Objekts - oder zumindest die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten, da im Bereich der Quantenphysik an manchen Stellen eben nur noch Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden können, wobei hier aber auch wieder gewisse Probleme, auch ontologischer Natur, auftreten - exakt beschrieben werden kann), wobei man sich eben selbst im Fall eines endgültigen Erfolges niemals sicher sein könnte, wirklich am Ziel zu sein, da es ebenso denkbar wäre, daß die Theorie und damit das Weltmodell noch eine Lücke aufweist, man aber noch nicht das Experiment durchgeführt hat, was eben diese Lücke sichtbar macht. Sie sind auf alle Fälle zu unterscheiden von den wissenschaftlichen Theorien, Modellen und Abstraktionen, die aus unseren Innenwelten hervorgehen.

Was für Objekte habe ich dabei vor Augen? Ein gutes Beispiel wären etwa die platonischen Ideen, soweit ich ihre Darstellung in den Werken der Sekundärliteratur, die ich gelesen habe, richtig verstanden habe. So wies Platon darauf hin, daß wir eine Vielzahl von Einzeldingen mit demselben Namen belegen: so bezeichnen wir Tiere mit bestimmten Merkmalen als "Pferd" und verwenden diesen Begriff für zahlreiche, individuell verschiedene Tiere. Der allgemeine Begriff, der sich auf die Spezies an sich bezieht (hier gibt es auch eine gewisse Verwandtschaft zum Äquivalenzklassenprinzip in der Mathematik, man könnte demnach zwei Tiere durch die Äquivalenzrelation "gehören der gleichen Spezies an" vergleichen und in Klassen einordnen, dann wäre "Pferd" die Klasse, das einzelne Tier ein Repräsentant dieser Klasse) ist für Platon eben nicht nur Abstraktion, sondern diesen Ideen kommt Realitätscharakter zu, und sogar eine höhere Form von Realität.

Was den letzten Punkt betrifft, möchte ich Platon lieber nicht folgen. Gerade mit Begriffen wie "höher" oder "vollkommener" sollte man ohnehin vorsichtig umgehen, um nicht auf Absurditäten wie den ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury zu verfallen (mit dessen Argument sich auch die Existenz von Einhörnern beweisen ließe, wie schon so mancher Spötter betont hat). Ich möchte in seinen Ideen eher eine Abstraktionsleistung sehen, also etwas, was aus der Innenwelt eines Bewußtseins hervorgegangen ist, aber tatsächlich Unabhängigkeit von dieser Innenwelt entwickeln kann (wie ich mit dem Beispiel des Buches, das noch gelesen wird, wenn sein Verfasser bereits tot ist, zu erläutern versucht habe) und daher auch durchaus als real bezeichnet werden kann. Solche Geistesschöpfungen, die aber unabhängig von ihrem Schöpfer weiter existieren können und vielleicht bestimmten Gesetzesmäßigkeiten unterliegen, möchte ich daher als innere ideelle Welt bezeichnen.

Freilich bleiben noch viele Fragen offen. So bin ich mir - wie ich an dieser Stelle auch freimütig einräumen möchte - keineswegs darüber im klaren, was konkret zur inneren ideellen Welt gerechnet werden soll. Besonders schwierig dürfte eine solche Einschätzung auf dem Gebiet der Mathematik sein. Denn einerseits könnte man große Teile der Mathematik als reine Schöpfung, etwas kreatives betrachten: so ist die Mathematik des Lebesgue-Integrals eine andere als die des Riemann-Integrals, was vor allem auf die verschiedenen Definitionen (und zugrunde gelegten Begriffe) zurückzuführen ist. Andererseits könnte man aber auf die nicht-euklidischen Geometrien auf gekrümmten Flächen (oder in gekrümmten Räumen!) hinweisen, von deren Existenz lange Zeit nichts geahnt wurde, obwohl es gekrümmte Flächen natürlich auch schon vorher gab. Die entscheidende Frage wäre also dabei, ob Gauß und andere Mathematiker des 19. Jahrhunderts die nicht-euklidischen Geometrien nun erfunden oder entdeckt haben. Mit den imaginären und komplexen Zahlen sieht es ähnlich aus. Ob man die mit diesen Begriffen verknüpften mathematischen Gesetze als Eigenschaften der Außenwelt und damit der äußeren ideellen Welt zugehörig betrachten oder sie als Kreationen und damit der inneren ideellen Welt zuschlagen soll, ist mir selbst noch nicht ganz klar.

Ein anderes Problem liegt bei den verschiedenen Spielarten von Kunstwerken vor. Denn auch hier stehen am Anfang bestimmte Ideen und vielleicht ideale Vorstellungen des Künstlers, die dann aber der Ausführung und damit der Konkretisierung, der Gestaltung und letztlich Manifestation bedürfen. Welcher der bisher erwähnten Welten das vollendete Kunstwerk zugerechnet werden soll, oder ob die Kunstwerke vielleicht auch zwischen diesen Welten stehen, möglicherweise sogar eine eigene Welt darstellen, ist ebenfalls unklar. Möglicherweise fällt die Antwort bei verschiedenen Kunstformen auch unterschiedlich aus. Dabei will ich es im Moment belassen und den Besonderheiten der Kunst später eine eigene Betrachtung widmen.

Freitag, 12. Juni 2009

Nachtrag zur naturwissenschaftlichen Methodik

Ich will mich hier kurz fassen, aber doch noch mal den Aspekt ansprechen, daß in den Naturwissenschaften im Grunde genommen Weltmodelle konstruiert werden, die in einem allmählichen Prozeß so verbessert werden können, daß sie zu immer größerer Übereinstimmung mit der realen Außenwelt gebracht werden kann, ohne daß ihre Richtigkeit aber jemals endgültig bewiesen werden könnte. Karl Popper hat sich ausführlich damit beschäftigt, und wenn sein Buch dazu ("Logik der Forschung") nicht so furchtbar teuer wäre, hätte ich es mir wohl schon mal zugelegt. Ich kenne Poppers Ideen daher - mal wieder - nur aus der Sekundärliteratur: sie besagen vor allem, daß wissenschaftliche Theorien niemals wirklich verizierbar im Sinne einer echten Bestätigung sein können, sondern eben nur falsifizierbar sind, falls sie etwa bei bestimmten Experimenten versagen. (Selbst, wenn eine Theorie die Prozesse der Natur perfekt und lückenlos beschriebe, könnte man sich dessen niemals ganz sicher sein.)

Ich weiß nicht, ob Popper dieses Beispiel aufgeführt hat, aber mir fällt in dem Zusammenhang etwa die Newtonsche Mechanik ein. Die hielt ungefähr 300 Jahre allen Beobachtungen stand (wenn man mal vom Problem der Perihelbewegung des Merkurs absieht, aber bei dem Problem kam niemand darauf, daß die Abweichungen durch einen Mangel der Gravitationstheorie verursacht sein könnten), bis das berühmte Michaelson-Morley-Experiment nicht nur der Äthertheorie jener Tage das Grab schaufelte, sondern auch die Überlegungen der theoretischen Physiker in Gang setzte, die schließlich zur Entwicklung der Relativitätstheorie führten.

Dabei ist eine neue Theorie natürlich nur dann als Verbesserung einer lange bewährten Theorie anzusehen, wenn sie nicht nur die Aspekte erklären kann, bei denen die alte Theorie versagt, sondern auch alles, was die alte Theorie schon erklären konnte. Daher gehen gerade in der theoretischen Physik die klassischen Theorien üblicherweise auch in den neuen Theorien auf: als Grenz- und Spezialfälle (so sind bei gemessen an der Lichtgeschwindigkeit niedrigen Geschwindigkeiten etwa die relativistischen Korrekturen so winzig, daß man in der Physik des alltäglichen Lebens ungestraft mit Newtons Gleichungen rechnen darf). Eine richtig gute Theorie sollte überdies zusätzliche Voraussagen machen, die dann ihrerseits wieder experimentell überprüfbar sind.

Damit will ich dieses Thema auch erst einmal beschließen. Wichtig ist mir aber, daß man - wie bereits erwähnt - bei wissenschaftlichen Theorien Modellvorstellungen entwickelt und diese dann (vor allem mathematisch) beschreibt. Je mehr ein Modell der Realität der Außenwelt ähnelt, desto leistungsfähiger wird es sein, aber es ist eben zunächst ein Modell. Gerade in der Mikrophysik spielt das eine Rolle, weil zu naive Modelle (etwa vom Elektron als einem herumschwirrenden kleinen Kügelchen) schnell an ihre Grenzen stoßen. Aber auch, wenn ein Modell die Prozesse, die man beobachtet, gut beschreibt, heißt das nicht unbedingt, daß das wirkliche Objekt seinem Äquivalent aus dem Modell ähnlich sein muß. Es ist sinnvoll, sich in bestimmten Fällen Licht als Welle vorzustellen, in anderen ist dagegen eine Partikelvorstellung erfolgreicher. Doch was Licht selbst nun wirklich ist, läßt sich nicht so richtig sagen - mitunter muß man sich vielleicht damit begnügen, bestimmte Phänomene mathematisch beschreiben zu können. Diese Modelle sind überaus nützlich, aber man sollte sie nicht kritiklos mit der physikalischen Realität der Außenwelt gleichsetzen. Auf diese Modelle werde ich daher später noch einmal zurückkommen.

Donnerstag, 11. Juni 2009

Prolegomena zu einer möglichen Weltbetrachtung

Hinter der hochtrabenden Überschrift verbirgt sich nicht mehr als die Absicht, einige Gedanken daran zu verschwenden, was für Axiome man sinnvollerweise voraussetzen sollte, um nicht einfach in einem radikalen Skeptizismus steckenzubleiben. Daß man (zumindest meiner Meinung) über diesen nicht hinausgelangt, wenn man Wert auf absolute Gewißheit legt, hatte ich ja schon in knapper Form dargelegt. Das bedeutet natürlich auch: mit jeder Annahme, die man als Axiom zugrunde legt, entfernt man sich weiter von dieser absoluten Gewißheit. Das läßt sich aber aushalten.

Als erstes Axiom bietet sich natürlich an:

1. Es existiert eine Außenwelt (die Welt der physikalischen Objekte), die unabhängig von unserem Bewußtsein und damit von unserer Innenwelt ist.

Von dieser unbeweisbaren Aussage dürfte wohl jeder (vernünftige) Mensch innerlich überzeugt sein, daher erscheint es mir nicht übertrieben, sie axiomatisch vorauszusetzen.

Allerdings steht, wenn man allein von der Gültigkeit dieses Axioms ausgeht, noch lange nicht fest, daß man etwas über die Welt erkennen kann. Es bestünde immer noch die Möglichkeit, daß zwar eine Außenwelt existiert, mit unserer Innenwelt aber gar nichts zu tun hat. Die Außenwelt könnte auch so unstrukturiert sein, daß man keine sinnvolle Aussage über sie machen kann. Kurz und gut, es müssen noch weitere Axiome gelten, damit Erkenntnisse über die Außenwelt überhaupt möglich sind.

So ist die Aussage, daß die Außenwelt geordnet, also bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, nicht selbstverständlich. Dazu will ich mal einige kritische Punkte zunächst überspringen und für den Moment schon mal davon ausgehen, daß wir - wenn auch nur auf indirekte Weise - die Welt wirklich beobachten und insbesondere auch vermessen können (auch dies muß man tatsächlich voraussetzen, aber das hole ich noch nach). Auch dann kann man sich immer noch nicht sicher sein, daß es so etwas wie Naturgesetze überhaupt gibt - denkbar, wenn auch alles andere als plausibel, wäre auch, daß nur ein sonderbarer Zufall (oder vielleicht eine Einwirkung von außen, etwa durch ein höheres Wesen) dafür sorgen, daß die Planeten auf ihren Bahnen bleiben, daß elektromagnetische Kräfte gelten und Salzsäure und Natronlauge sich zum bekannten Kochsalz verbinden. Das ist bislang zwar immer so gewesen - es könnte rein theoretisch aber morgen ganz anders sein.

Nun wirkt diese Annahme allerdings auch reichlich willkürlich, und sie ist auch nicht gerade einfach, denn die bisherigen (gleichmäßigen) Abläufe im Universum durch die Gültigkeit immergeltender Naturgesetze zu erklären, ist auf alle Fälle einfacher als die Annahme sonderbarer Launen der Natur, die bislang nur deshalb so regelmäßig abgelaufen sind, um uns hinters Licht zu führen. Daher möchte ich mich noch weiter vorwagen und auch von dem folgenden Axiom ausgehen:

2. Die Abläufe in der Außenwelt sind Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die man als Naturgesetze bezeichnen kann.

Nun müssen allerdings die zuvor offen gebliebenen Probleme der Weltbeobachtung noch unter die Lupe genommen werden. Insbesondere geht es dabei um das Problem unserer Weltwahrnehmung und daraus folgender Welterkenntnis.

Dabei scheint es nicht übertrieben zu sein, zu behaupten, daß unsere Sinnesorgane die "Vermittler" zwischen der Außenwelt und unserer Innenwelt darstellen. Soll heißen: Dinge, für die uns Sinne fehlen, haben auch keine gefühlte Entsprechung in unserer Innenwelt. Wir können zwar in Träumen Bilder sehen, zu denen es keine Entsprechung in der Außenwelt gibt, die demnach also Produkte unseres Gehirns sind, und diese Traumbilder können in den verschiedensten Farben auftreten - doch gilt das auch für einen von Geburt an Blinden? Wohl kaum - leider kenne ich keine konkreten Schilderungen der Träume von Geburt an Blinder, doch ich bin mir eigentlich sicher, daß es in deren Träumen zwar jede Menge Töne, aber eben keine Bilder gibt. Umgekehrt gibt es keinen Sinn für Röntgenstrahlung - und in der Tat träumt man auch nicht von einem Sinneseindruck, der durch Röntgenstrahlung ausgelöst würde.

Es liegt also nahe, daß unsere Sinnesorgane uns insofern eine Eindruck von der Außenwelt der physikalischen Objekte vermitteln, daß sie durch tatsächliche Prozesse (das Einfallen von Licht beim Sehvermögen, Schwingungen der Luft beim Hören) oder auch einfach Objekte (wenn man einen Gegenstand berührt und der Tastsinn angesprochen wird) dazu gebracht werden, ein Signal in unser Gehirn weiterzuleiten. So entsteht aus den Sinneseindrücken ein Abbild der Welt in unserem Kopf, freilich ein stark eingezäuntes Abbild, denn so lösen die weitaus meisten Formen elektromagnetischer Wellen eben keinerlei Reaktion unsere Sinnesorgane aus.

Was kann man noch über die Sinneseindrücke annehmen? Sinnvoll dürfte auch noch die Annahme sein, daß unsere Sinnesorgane unserer Umwelt angepaßt sind - wir nehmen vor allem Phänomene wahr, die für uns (uns vor allem unser Überleben) besonders wichtig sind. Auch dies ist plausibel, denn ein Sinnesapparat, der vollkommen untauglich wäre, um sich in der direkten Umgebung zurechtzufinden, wäre wohl ein Garant für eine extrem geringe Lebenserwartung. (Eine Nebenbemerkung: wenn man von einem auf die Umweltbedingungen abgestimmten Staatsapparat ausgeht, ist damit noch nicht gesagt, warum der Sinnesapparat so angepaßt ist: er könnte bewußt so geschaffen sein, das wäre die Gotteshypothese, oder das Ergebnis eines allmählichen evolutionären Prozesses, was die Theorie ist, die ich für die weitaus überzeugendere und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffende halte.) All dies zusammen ergäbe also ein weiteres Axiom:

3. Unsere Sinnesorgane werden von bestimmten Prozessen oder Objekten der Außenwelt angeregt und leiten Signale weiter, aus denen dann die Sinneseindrücke unserer Innenwelt werden. Dabei ist die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane allerdings begrenzt, da sie nur auf wenige Vorgänge der Außenwelt überhaupt reagieren; diese Bereiche ihrer Aufnahmefähigkeit sind aber an unsere Umwelt (gut) angepaßt.

Wenn man dieses Axiom auch noch akzeptiert, wäre mit den Sinnesorganen eine Verbindung zwischen der subjektiven Innen- und der objektiven Außenwelt gefunden. Eine beschränkte und auch nicht immer zuverlässige Verbindung allerdings (man denke nur an die Wirkung mancher Drogen). Das nächste, vielleicht noch schwierigere Problem wäre nun aber, wie unser Verstand, d.h. vor allem unser Gehirn diese Sinneseindrücke auswertet und so überhaupt erst die Innenwelt modelliert, zu der eben auch neben konkreten Eindrücken und Gefühlen auch abstrakte Gedanken gehören können.

Wenn man sich anschaut, wie die Auswertung der Sinneseindrücke bei Tieren abläuft, spielen die berühmten Instinkte auch eine große Rolle - offenbar bestimmte Programme, die angeboren und ähnlich wie die Sinneseindrücke selbst auf die Umwelt eines Tiers abgestimmt sind (auch dies als Ergebnis eines evolutionären Prozesses, zumindest nach meiner Auffassung und der aller ernstzunehmenden Biologen). Je weniger entwickelt Bewußtsein und individuelles Denken entwickelt sind, desto größer ist dabei offenbar die Rolle, die die Instinkte spielen.

Die menschliche Wahrnehmung und das menschliche Verhalten sind im Vergleich dazu deutlich weniger instinktgesteuert. Offenbar tragen wir in unseren Köpfen nur noch wenige fertige Verhaltensprogramme herum, haben dafür aber angeborene Instrumente zur Verfügung, die es uns ermöglichen, Sinneseindrücke auszuwerten. Daraus ergibt sich als weiteres Axiom:

4. Neben unseren Sinnesorganen, die auf Vorgänge in der Außenwelt ansprechen, sind wir mit einem Gehirn ausgestattet, das Instrumente bereitstellt, die Sinneseindrücke zu analysieren.

Was für Instrumente sind das? Ich würde hier vor allem das Gedächtnis, die Fähigkeit zum Vergleichen und die zum Abstrahieren nennen. Ohne Gedächtnis wäre es weder möglich, zu erkennen, daß ein bestimmter Sinneseindruck schon früher einmal wahrgenommen wurde, noch, das Gegenteil davon festzustellen. Das Gedächtnis allein aber ermöglicht noch kein Vergleichen, ist aber die Voraussetzung dafür. Das Vergleichen der mit bestimmten Objekten verbundenen Erfahrungen wiederum ermöglicht das Abstrahieren, zu dem insbesondere das Erkennen bestimmter Klassen (so etwa Raubtieren und Pflanzenfressern) zu zählen ist. Die Bedeutung des Abstrahierens ist wohl kaum zu überschätzen: während ein einfaches Tier (nehmen wir mal einen Hahn) Warnprogramme vor natürlichen Feinden (etwa ein Wiesel) mit sich herumträgt, sind menschliche Gehirne in dieser Hinsicht wohl weniger stark vorprogrammiert. Dafür können sie aber Erfahrungen so beurteilen, daß sie bestimmte Muster zu erkennen in der Lage sind und so einen Vorteil haben, wenn sie mit einer veränderten und ungewohnten Situation konfrontiert werden. (Das funktioniert freilich nicht immer: manchmal kann eine Situation so fremdartig sein, daß sie zu keinem bekannten Muster paßt, und manchmal kann der Verstand uns auch in die Irre führen, daß er ein vermeintliches Muster dort zu erkennen meint, wo es gar keins gibt.)


Mit diesen Verstandesfähigkeiten ist aber auch - immer die Gültigkeit der aufgeführten Axiome vorausgesetzt - ein Weg vorgegeben, etwas über die Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt herauszufinden: durch die Auswertung gesammelter Erfahrungen ist es möglich, im Zuge eines Abstraktionsprozesses Hypothesen über jene Gesetzmäßigkeiten zu formulieren und diese wiederum zu überprüfen, indem man verschiedene Experimente durchführt und festhält, ob deren Ergebnisse im Einklang mit der Hypothese sind. So läßt sich ein Prozeß der Modellierung einleiten, der zu einer allmählichen Verbesserung der Hypothesen führen wird. Dies ist im Prinzip das Vorgehen der Naturwissenschaften, vielleicht werde ich später noch etwas mehr dazu schreiben. Wichtig ist mir hier aber eine andere Konsequenz: wenn man von der Gültigkeit der obigen Axiome ausgeht, dann ist es möglich, mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden ein Abbild der Welt zu modellieren, das sich in einem allmählichen Prozess immer weiter verbessern läßt. Sollte dagegen das zweite Axiom (oder gar das erste) nicht erfüllt sein, wäre dieses Vorgehen fruchtlos, dann aber ist auch von bloßem Nachdenken kein wirklicher Erkenntnisgewinn zu erwarten. Das bedeutet aber: wenn man von einer Weltordnung ausgeht, die wirkliche Welterkenntnis ermöglicht, dann sind auch die naturwissenschaftlichen Methoden dabei ein sinnvolles Instrument - das bedeutet aber andererseits, daß eine Philosophie, die ernstgenommen werden will, sich nicht den Luxus leisten kann, naturwissenschaftliche Kenntnisse einfach zu ignorieren.

Ob die Methoden der Naturwissenschaft auf alle philosophischen Fragestellungen mit Nutzen anwendbar sind, das ist noch mal eine andere Frage, so bin ich zumindest nicht jeder Art der Metaphysik von vornherein abgeneigt, schon deshalb, weil eigentlich die aufgeführten Axiome auch schon eine Art von Metaphysik darstellen. Doch eine Philosophie im luftleeren Raum, die sich um Ergebnisse der Naturwissenschaft überhaupt nicht kümmert, halte ich für obsolet.

Mittwoch, 10. Juni 2009

Was liest ein Amateurphilosoph eigentlich?

Die Frage bezieht sich jetzt auch mehr auf den philosophischen Bereich, ich habe - im Moment zumindest - also nicht die Absicht, hier lang auszubreiten, was ich überhaupt so alles lese.
Es soll also um den mehr oder weniger philosophischen Bereich gehen. Da ist man als Amateurphilosoph erst mal in der Hinsicht gut dran, daß man manches nicht unbedingt lesen muß... denn Heidegger etwa scheint nun wahrlich kein Zuckerschlecken zu sein. Die armen Philosophiestudenten!
Wenn man so wie ich gern einmal über die Dinge nachgrübelt, ohne sich gleich meterweise schwer lesbare Bücher ins Regal zu stellen, sind natürlich Bücher, die eine Übersicht geben, sehr nützlich, Sekundärliteratur also. Die ist sicher kein Ersatz dafür, sich das eine oder andere Buch dann doch mal selbst vorzunehmen, aber eine Philosophiegeschichte oder etwas in der Art kann sehr nützlich sein, wenn man als Laie vor der Frage steht, an welchen Philosophen man sich mal heranwagen möchte...

Ganz wunderbar in dieser Beziehung finde ich Hans Joachim Störigs "Kleine Weltgeschichte der Philosophie". Zum einen ist dieses sehr empfehlenswerte Buch wirklich gut lesbar, außerdem widmet Störig auch den indischen und fernöstlichen Philosophen, die in westlichen Büchern gern mal vergessen werden, entsprechende Kapitel, und dann geht er auch auf Entwicklungen in der Naturwissenschaft ein sowie darauf, wie diese auf die Entwicklung der Philosophie ausstrahlen.
Gut lesbar ist auch Wilhelm Weischedels "Die philosophische Hintertreppe", allerdings ist dies eines der Bücher, in denen die indischen und chinesichen Denker völlig ignoriert werden, und Querverbindungen zur Naturwissenschaft spielen auch kaum eine Rolle. Diese wiederum tauchen im "dtv-Atlas zur Philosophie" auf, allerdings ist die dortige Darstellung recht knapp, und die dtv-Atlanten-typische Gegenüberstellung von Text und Illustrationen funktioniert nicht immer gleich gut: beim Höhlengleichnis erhöht das sicher die Anschaulichkeit, die Illustrationen zu Heidegger machen dagegen auch nichts verständlicher.
Kurz und gut: von diesen drei Büchern würde ich ganz klar den Störig empfehlen.

Was man dann an Werken wirklich selbst liest, hängt auch ein wenig von den eigenen Vorlieben und Interessen ab. Ich habe mich vor sehr vielen Jahren mal an Kants "Kritik der reinen Vernunft" gewagt, inzwischen aber so viel vergessen, daß ich mir dieses dicke und schwierige Buch eigentlich noch mal komplett von vorn vornehmen müßte, um wirklich etwas sinnvolles dazu sagen zu können. Mit Sartres "Das Sein und das Nichts" sieht es ähnlich aus: irgendwann mal gelesen, wenig behalten. Leichter zugänglich als Sartre und vor allem auch einfacher verständlich ist der Kollege Camus, der etwa "Der Mythos von Sisyphos" und "Der Mensch in der Revolte" geschrieben hat - besonders letzteres gehört zu den philophischen Büchern, die mich am meisten beeindruckt haben. Mein vielleicht liebstes philosophisches Werk ist aber Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung", wenngleich auch hier eine erneute Lektüre eigentlich überfällig ist. Schopenhauer knüpft an Kant an, ist diesem aber zumindest stilistisch überlegen. Vor allem aber ist es wohl Schopenhauers düsterer Pessimismus, der mich so angesprochen hat.
Edmund Husserl fand ich dagegen ausgesprochen langweilig, wozu sein trockener Stil einiges beiträgt, während Nietzsche und Kierkegaard (die ich beide aber auch nur vorsichtig beschnuppert habe) deutlich fesselnder sind, auch wenn sie mir inhaltlich eher fremd sind.
Auf alle Fälle lesenswert sind noch die "Selbstbetrachtungen" des römischen Kaisers Marc Aurel, die eigentlich Pflichtlektüre für alle Politiker sein müßten. Demnächst will ich mal mit Platon und Aristoteles mein Glück versuchen.

Dies nur so als kleine (nicht ganz vollständige) Übersicht, was ich mal zumindest versuchsweise gelesen habe. Aber, wie gesagt: um herauszufinden, was für Werke einen ansprechen könnten, ist die Sekundärliteratur unter Umständen sehr hilfreich.